31. März 2012

Karl May hat das alles gar nicht erlebt? Aber ja! Über die Einheit von Person und Werk bei Karl May. Über die Gründe seines Erfolgs

Am gestrigen 100. Todestag von Karl May werden Sie, wenn Sie Zeitung gelesen, sich im Internet bewegt, Radio gehört oder ferngesehen haben, seinem Namen vermutlich nicht entgangen sein. Die mediale Aufmerksamkeit war bedeutend größer als vor einer Woche, als Martin Walser seinen 85. Geburtstag feierte.

Merkwürdig, nicht wahr? Der eine war ein drittklassiger Vielschreiber des 19. Jahrhunderts; der andere ist einer der bedeutendsten deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts; vielleicht der wichtigste lebende Romancier (siehe Heute wird Martin Walser 85; ZR vom 24. 3. 2012).

Über das Geheimnis des ungeheuren, noch immer anhaltenden Erfolgs dieses seltsamen Autors Karl May, dieses "meistgelesenen deutschen Schriftstellers", ist viel nachgedacht und spekuliert worden. Ich möchte einige der möglichen Gründe diskutieren und dann auf einen Aspekt aufmerksam machen, der mir zentral zu sein scheint: Die Einheit von Person und Werk bei Karl May.



Woher rührt Mays Erfolg?

Zum Volksschriftsteller ist er nur im deutschsprachigen Raum geworden. Ganz anders als Robinson Crusoe, Lederstrumpf und die Figuren der "Schatzinsel" oder des "Dschungelbuchs" haben Old Shatterhand, Winnetou und Hadschi Halef Omar niemals internationale Berühmtheit erlangt.

Ist Karl May also ein typisch deutsches Phänomen? Hat seine Aufschneiderei, hat sein nachgerade ins Lächerliche aufgeblasenes Ego etwas mit dem wilhelminischen Deutschland zu tun? Und liegt seine anhaltende Wirkung dann vielleicht daran, daß etwas vom Bürger des wilhelminischen Deutschland noch immer in uns wirkt und wabert; in dieser deutschen Nation, die sich in klassischer teutonischer Überheblichkeit gerade wieder als Vorbild für die ganze Welt zu verstehen beginnt, diesmal zur Abwechslung nicht in schimmernder Wehr, sondern als die Aussteigernation?

Ja, es war lächerlich aufgeblasen, dieses Ego des Karl May. Einem Leser schrieb May beispielsweise am 2. November 1894:
Ich spreche und schreibe: Französisch, englisch, italienisch, spanisch, griechisch, lateinisch, hebräisch, rumänisch, arabisch 6 Dialekte, persisch, kurdisch 2 Dialekte, chinesisch 2 Dialekte, malayisch, Namaqua, einige Sunda-Idiome, Suaheli, Hindostanisch, türkisch und die Indianersprachen der Sioux, Apachen, Komantschen, Snakes, Uthas, Kiowas nebst dem Ketschumany 3 südamerikanische Dialekte. Lapp­ländisch will ich nicht mitzählen.
Das brachte kein bramabarsierender Jugendlicher zu Papier; sondern als er das schrieb, war Karl May 52 Jahre alt. Er beherrschte ein wenig Englisch und sonst keine Sprache.

Als er einige Jahre später, 1899, in den Orient reiste, gab er sich als "Dr. phil. Karl May" aus. Warum? Er hatte keine Hochstapelei mehr nötig. Er war jetzt ein berühmter, reicher Schriftsteller. Das mehr Scheinen als Sein war ihm aber offenbar zur zweiten Natur geworden.

Die Titelvignette zeigt May in einer Pose, die diese wilhelminische Selbstdarstellung illustriert. Im Jahr 1875, als das Foto (für eine vergrößerte Ansicht darauf klicken) entstand, hatte er es gerade geschafft, die Karriere des Zuchthäuslers zu verlassen und in die Karriere des Schriftstellers einzubiegen.



Oder liegt das Geheimnis von Mays Erfolg darin, daß dieser Mann nie erwachsen geworden ist? Und deshalb so faszinierend für Kinder, für Jugendliche?

Daß ein Deutscher erst im Erwachsenenalter mit der Lektüre von Karl May beginnt, dürfte die absolute Ausnahme sein. Die meisten, die ihn auch als Erwachsene gelegentlich (oder auch oft) lesen, sind seinem Werk zuerst als Kinder oder Jugendliche begegnet; Ernst Bloch zum Beispiel und Martin Walser.

Auch mir ist es so gegangen. Eine Zeitlang wohnten meine Eltern neben einer Leihbücherei, die fast alle Werke der Bamberger Ausgabe hatte. Mein "erster Karl May" war - ich mag sieben oder acht Jahre gewesen sein - "Winnetou I". Danach war ich gefangen und habe mich durch die Gesammelten Werke gelesen; sie gingen damals, glaube ich, bis zu Band 63 - "Zobeljäger und Kosak".

Was machte die kindliche Faszination, meine damalige Besessenheit mit Karl May aus? Im Zentrum stand eindeutig die Identifikation mit dem Helden; und die Peripherie wurde gebildet durch die Traumwelt seiner Abenteuer.

In den Geschichten mit einem Icherzähler - den Winnetou-Bänden, dem Orient-Zyklus, der Reise aus der Zivilisation in die Wildnis in "Am Rio de la Plata" und "In den Cordilleren" beispielsweise - ist die Identifikation mit dem Autor (Old Shatterhand also, Kara Ben Nemsi oder auch einfach "ich") nachgerade unvermeidlich. Sie wird vom Erzähler angeboten; der jugendliche Leser gibt sich ihr nur allzu gern hin.

Aber auch die anderen Werke, die ich damals las, hatten stets einen männlichen Helden, der sich für eine Identifikation anbot; zum Beispiel den Dr. Karl Sternau in den Bänden der Bamberger Ausgabe mit den Nummern 51 ("Schloß Rodriganda") bis 55 ("Der sterbende Kaiser"). (In sie hatte der Karl-May-Verlag den Kolportageroman "Das Waldröschen" zerlegt. Inzwischen ist aus dem "Waldröschen" noch ein weiterer Band "Die Kinder des Herzogs" geschneidert worden; bei Band 77 ist man damit mittlerweile angelangt).

Da also ist auf der einen Seite dieser Held, das - freudianisch gesprochen - Ich-Ideal: Nicht nur unbesiegbar, ein Meister in Allem, von unendlichem Scharfsinn und allwissend; sondern auch von größter christlicher Güte. Und auf der anderen Seite gibt es die Traumwelt Karl Mays, die Ernst Bloch so beschreibt:
Auch weiter liebt es diese Art Schrift, geträumt zu sein. (...) Dabei kann hier dem Leser, während er liest, durchaus das Bewußtsein fehlen, daß er liest, genau so wie dem Träumenden, daß er träumt (..) In dieser Traumkraft dringt zugleich die Kolportage seit hundert Jahren steigend vor, hat die seßhaften Kalender, die Schnurren des bedürfnislosen Volks überrannt, greift neu die Urelemente von Glanz und Weitensehnsucht auf. (...)

Und der Inhalt der Freizügigkeit schlechthin erscheint: Schurken, die sie hindern, weite Prärie, gefährliche Stadt, Räuberbraut, Detektive des Schlechten, Held und edle Rächer, alle Gestalten der Dämonie und des Lichts. (...) Träumt also Kolportage immer, so träumt sie doch immerhin Revolution, Glanz dahinter; und das ist, wenn nicht das Reale, so das Allerrealste von der Welt.
Auf Blochs Bemerkung vom "Allerrealsten" werde ich gleich zurückkommen. Zunächst ist festzuhalten: May bietet lustvolles Träumen. Es ist aber nicht die Lust des Genießens, die angesprochen wird, sondern die Lust des Handelns; es ist die Lust des Sichbewährens, der Identifikation mit dem Ritter gegen Tod und Teufel. Träume des Jungen, der sich fragt, was er "einmal werden will". Der seine Lebenslinie sucht.



Der Begriff der Lebenslinie stammt von Alfred Adler. Ein Zugang zu Karl May mit den Erklärungsmustern der Adler'schen Individualpsychologie bietet sich an: Nachgerade alles an diesem Mann war Überkompensation.

Der ungewöhnlich schmalschultrige, schmächtige, 170 Zentimeter (oder etwas weniger) messende Mann schildert sich als einen Kraftmenschen, der jeden Feind mit einem Faustschlag zu Boden strecken kann. Der kurzsichtige May hat als Old Shatterhand den Adlerblick. Der Meisterreiter auf Rih und Iltschi dürfte im richtigen Leben ein einziges Mal auf einem Pferd gesessen haben; dem Roß, das er im Juni 1869 aus dem Stall einer Wirtschaft gestohlen hatte. Er verkaufte es an eine Pferdeschlächterei.

Karl May als ein Überkompensierer nicht alltäglichen Maßes - das ist eine der möglichen Arten, sich dem Autor psychologisierend zu nähern. Man kann es aber auch mit Sigmund Freud versuchen, wie Arno Schmidt das getan hat.

In dem 1963 erschienen skurrilen Buch "Sitara und der Weg dorthin" versuchte sich Arno Schmidt an einer Textanalyse Karl Mays, wie er sie in großem Stil später in "Zettel's Traum" für Edgar Allan Poe vorgeführt hat: Unter dem Text liegt für ihn ein Subtext vor allem sexueller Art verborgen, der sich ähnlich der Weise erschließen läßt, mit der Freud bei der Traumdeutung dem "manifesten Trauminhalt" die "latenten Traumgedanken" abgewinnt: Indem man Symbole deutet, indem man Bedeutungsassoziationen, ja dem Klang einzelner Wörter nachspürt (siehe Gedanken beim Wiederlesen von Karl May; ZR vom 21. 6. 2007).

Was Schmidt meint auf diese Weise herauspräparieren zu können, das ist die Welt eines latent Homosexuellen, für den Winnetou mehr als nur ein Bruder ist und in dessen Landschaftsschilderungen es von ins Riesenhafte vergrößerten sexuellen "Organabbildungen" wimmelt.

Schmidts Buch ist amüsant zu lesen, wenn man ein wenig mit Karl May, seinen Motiven und seinen Gestalten vertraut ist. Beweisbar sind die Ergebnisse solch aberwitzigen Scharfsinns nicht; so wenig, wie man wissen kann, ob eine Traumdeutung in der Art Sigmund Freuds Enthüllung ist oder bare Erfindung.

Immerhin: Daß Karl Mays Werk auch durch die vielleicht unbewußten Assoziationen seine starke Wirkung entfaltet, die es beim Leser auslöst, das wird man nicht von der Hand weisen können. Gewiß teilt ein Text dem Leser nicht nur Mays Phantasien mit, sondern er regt auch dessen eigene an; "Kino im Kopf", und wer weiß, welche Filmgenres da laufen.



War also Karl May ein Phantast? War er der blasse Stubenhocker, der vom richtigen Leben nichts verstand und der sich - darin wäre er dann freilich Arno Schmidt ähnlich gewesen - für die Ereignislosigkeit seiner realen Existenz durch die Flucht in die Jagdgründe der Phantasie entschädigte?

Nein, so war das nicht. Jedenfalls in seiner ersten Lebenshälfte war May sehr wohl der Abenteurer, als der er sich in seinen Büchern schildert. Das monatelange Reisen von Ort zu Ort; Flucht und Gefangennahme; trickreiches Entkommen; ein Leben in ständiger Gefahr - das hat Karl May erlebt. Die Karl-May-Forschung spricht von der ersten Vagantenzeit vom Juli 1864 bis zum März 1865 und der zweiten Vagantenzeit vom März 1869 bis Januar 1870. Dazwischen lag eine Haftzeit; nach der zweiten Vagantenzeit war May wiederum inhaftiert, diesmal für vier Jahre. Jedesmal für Trickbetrügereien, für Diebstähle, für Zechprellereien; dergleichen.

In diesen beiden Vagantenzeiten war Karl May, wie später in seinen Büchern der Westmann Old Shatterhand und der Orientreisende Kara Ben Nemsi, ständig unterwegs. Freilich reiste er nicht von Bagdad nach Stambul, sondern beispielsweise von Wiederau ins ebenfalls sächsische Claußnitz; er war nicht in den Schluchten des Balkan unterwegs, sondern in denen des Erzgebirges. Er war in diesen beiden Zeiten von jeweils fast einem Jahr schon so etwas wie ein Westmann, ein Grenzer - aber nicht an der Grenze zwischen Mexiko und den USA, sondern zwischen Sachsen, Bayern und Böhmen.

In anderen Worten: Das Phantastische an Karl Mays Werk besteht nicht darin, daß sich da einer das pralle, bunte Leben zusammenphantasiert hätte, weil sein eigenes trocken und karg gewesen wäre. Sondern er nahm dieses sein reales Leben als vagabundierender Kleinkrimineller, das nur allzu abenteuerlich gewesen war, und verwandelte es:

Aus dem kleinen Dieb und Hochstapler wurde der reisende Schriftsteller Dr. Karl May, aus der sächsischen Polizei die Zouaven des Padischah. Die schrägen Tippelbrüder und Penner, die er als Vagabund kennengelernt haben mag, porträtierte er als alle diese Gestalten der Dark and Bloody Grounds und der Rolling Prairie - Sam Hawkins und den Hobble Frank, Old Wabble, die Tante Droll, Sans-Ear und wie sie alle heißen.

Das ist aber nur der eine Aspekt, unter dem Mays Phantasien ihren realen Bezug haben. Den anderen habe ich in dem erwähnen Artikel von 2007 skizziert: Er hat sich größte Mühe gegeben, bei aller Unwahrscheinlichkeit der Handlung doch im Detail realistisch zu sein.

Nicht nur die Geografie stimmte bis ins Detail - auch die politischen, die sozialen Verhältnisse in den jeweiligen Gegenden schilderte Karl May so genau und oft so treffend, daß man vieles noch heute in den betreffenden Ländern wiederfindet. Große Mühe gab er sich auch damit, Wendungen und Redensarten in den jeweiligen Sprachen - Englisch, Arabisch, Spanisch beispielsweise - einzuflechten, die den "Reiseerinnerungen" zusätzliche Authentizität verleihen sollten. Ein wesentlicher Teil der Zeit zur Produktion seiner Texte muß dem Studium der Quellen gegolten haben, denen er das alles entnahm.

Hoffte der lebenslange Hochstapler, daß man ihm dadurch allen Ernstes abnehmen würde, er habe diese Reisen wirklich unternommen? Allmählich scheint er das geglaubt zu haben, als er ab ungefähr 1890 die Old-Shatterhand-Legende verbreitete und immer toller ausschmückte (siehe oben das Zitat zu seinen Sprachkenntnissen).

Ob er es von Anfang an darauf angelegt hatte, sich als der real existierende Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi zu präsentieren, ist eine andere Frage. Vorläufer-Figuren von Winnetou ("Prä-Winnetous" hat sie Arno Schmidt genannt) und Old Shatterhand finden sich jedenfalls in Werken, die noch eindeutig als Fiktion erkennbar gewesen waren. Die Identifikation war nicht sofort da, sondern sie entstand in dem Maß, in dem Karl May zur Berühmtheit wurde.

Er schrieb phantastisch im Großen, aber im Detail realistisch; ganz so, wie ein erfolgreicher Hochstapler sich um Richtigkeit im Detail bemühen muß. May war in seiner Vagantenzeit ein sehr erfolgreicher Hochstapler, der den Polizeileutnant von Wolframsdorf ebenso überzeugend spielen konnte wie beispielsweise den Dr. med. Heilig. Da dürfte alles am Auftreten gestimmt haben - nur, daß May eben kein Polizist und kein Arzt war. In seinen "Reiseerinnerungen" stimmt fast alles; nur daß diese Reisen nie stattfanden.

Fiktion und Realität waren für Karl May keine getrennten Welten. Er gab sich in der Realität fiktive Identitäten; seine Fiktion ist andererseits prall mit realistischen Details. Bei kaum einem Schriftsteller gibt es eine derartige Einheit von Person und Werk. Das spürt der Leser - daß der Autor bei aller Flunkerei, bei aller Aufschneiderei doch immer in diesem Sinn authentisch ist.

Da gibt sich nicht einer als ein anderer aus als derjenige, der er ist. Nur ist er eben einer - und insofern wirklich nie erwachsen geworden -, der sich weigert, sich dem Realitätsprinzip zu unterwerfen. Er reichert seine Realität stets mit Fiktion an; seine Fiktion trägt überall die Spuren seines realen Lebens.
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Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Karl May im Alter von 33 Jahren als Redakteur des Verlags Münchmeyer in Dresden. Gemeinfrei, da das Copyright abgelaufen ist.