20. März 2012

Zitat des Tages: "Der Solidarpakt Ost ist ein perverses System". Oberbürgermeister des Ruhrgebiets über ihre Finanzlage. Nebst einem Blick auf Altena

Der Solidarpakt Ost ist ein perverses System, das keinerlei inhaltliche Rechtfertigung mehr hat. (...) Der Osten ist mittlerweile so gut aufgestellt, dass die dort doch gar nicht mehr wissen, wohin mit dem Geld. Und bei uns im Ruhrgebiet brennt der Baum.
Der Dortmunder Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) gegenüber Bernd Dörries, dem Düsseldorfer Korrespondenten der "Süddeutschen Zeitung".

Kommentar: Dörries hat sich bei den Oberbürgermeistern der großen Städte des Ruhrgebiets umgehört und ist überall auf dieselbe Haltung gestoßen:
  • "Es muss Schluss sein mit der Verteilung nach Himmelsrichtung" (OB Klaus Wehling, Oberhausen).

  • "Der Solidaritätspakt ist nicht mehr zeitgemäß. Künftig muss die finanzielle Situation als Kriterium für die Hilfe entscheidend sein" (OB Reinhard Paß, Essen).

  • "Die Not ist hier viel größer. Das Ruhrgebiet braucht mehr Investitionen in Infrastruktur und Bildung" (OB Frank Baranowski, Gelsenkirchen).
  • In der Tat erscheint die drastische Kennzeichnung "pervers" nicht übertrieben, wenn man sich klarmacht, daß diese hochverschuldeten Städte sich weiter verschulden müssen - nur um ihren Anteil an den Transferleistungen gemäß dem Solidarpakt II aufbringen zu können. Dörries:
    Die Stadt Essen ist mit 2,1 Milliarden Euro verschuldet, ein Drittel davon wurde durch die Beiträge für den Solidarpakt verursacht. Duisburg musste in den vergangenen Jahren Kredite im Wert von einer halben Milliarde Euro aufnehmen, um die Finanzhilfen für den Osten zu bezahlen. In Oberhausen, der am höchsten verschuldeten Stadt Deutschlands, sind es 270 Millionen Euro.
    Daß die ärmsten Städte - arm nicht aufgrund schlechter Haushaltsführung, sondern bedingt durch den Strukturwandel der deutschen Industrie - für inzwischen wohlhabende Städte im Osten zahlen müssen, ist mehr als nur ungerecht; es ist nachgerade ein Skandal. Die Ärmsten müssen für diejenigen bluten, denen es inzwischen - glücklicherweise - besser geht: Besser als ihnen selbst; natürlich ungleich besser als im Sozialismus.

    Und es sind ja keineswegs nur die großen Städte des Ruhrgebiets. Auch anderswo im Westen zerbrechen alte Industrien, ohne daß die Städte die Möglichkeit hätten, den Steuerausfall zu ersetzen. Ganze Industriezweige verschwinden. Nicht nur deren Gewerbesteuer geht verloren, sondern es wandern in der Folge auch Einwohner ab; damit sinken die Steuereinnahmen weiter.

    Ein Beispiel ist die kleine Stadt Altena, ebenfalls in NRW gelegen und den Wanderfreunden bekannt als Sitz der ersten Jugendherberge der Welt auf Burg Altena.

    Über die Stadt Altena schrieb kürzlich die "Welt":
    Seit Jahren übersteigen die Ausgaben die Einnahmen. Das Defizit decken Hollstein und sein Kämmerer Stefan Kemper mit Kassenkrediten, vergleichbar dem Überziehungskredit auf dem Girokonto. Kassenkredite von 41 Millionen Euro hat die Stadt angehäuft. Der Schuldenberg wird weiter wachsen. (...)

    Bürgermeister Hollstein hat fast jedes Sparrezept in Altena schon ausprobiert. "Wir haben alle Grausamkeiten gemacht, die man machen kann", sagt er. (...)

    Das Freibad wurde dichtgemacht, die Zahl der Rathaus-Mitarbeiter verringerte er von 180 auf 140. Eine Grundschule wurde geschlossen, die Zuschüsse für Sport- und Seniorenvereine wurden gestrichen, die Stadträte mussten auf ihre Aufwandsentschädigungen verzichten, für Jubilare gibt es keine Präsentkörbe mehr, sondern nur noch Blumensträuße. Trotz aller Grausamkeiten steckt die Stadt auch nach 13 Jahren tief in den roten Zahlen. Ohne Hoffnung auf Besserung.
    1970 hatte Altena etwas mehr als 32.000 Einwohner gehabt. Vierzig Jahre später, im Jahr 2010, waren es noch genau 18.277. Die Stadt war über Jahrhunderte das Zentrum der deutschen Drahtindustrie gewesen. Draht importiert Deutschland heute aus Ländern, in denen er billiger hergestellt werden kann als in Altena.

    Die Stadt liegt in einem engen Tal - demjenigen der Lenne - zwischen steil ansteigenden Bergen; mehr als einige wenige Reihen alter, meist schiefergedeckter Häuser haben auf den beiden Seiten des Flusses keinen Platz. Das sieht zwar romantisch aus und mag ein Grund dafür gewesen sein, daß Richard Schirrmann dort vor hundert Jahren seine Jugendherberge gründete; aber für die Ansiedlung neuer Industrie ist eine solche Geografie tödlich.



    Die Transferleistungen nach der Wiedervereinigung waren richtig, ja notwendig. Wer 1990 oder 1991 durch die Noch-DDR und dann die Neuen Länder gereist ist und die heruntergekommenen Städte gesehen, Sinnbilder des Sozialismus - und wer heute wieder dorthin fährt und sieht, was aus Potsdam, aus Dresden oder Eisenach geworden ist, der weiß, wie erfolgreich der Aufbau Ost war und ist.

    Jetzt brauchen wir einen Aufbau West; die Sanierung der Städte im Westen, die durch den Strukturwandel in Not geraten sind.

    Übrigens sieht das auch Joachim Gauck so. In dem Interview am Sonntag mit der ARD sagte er:
    Ich bin nirgendwo so oft gewesen wie in Nordrhein-Westfalen in den letzten drei Jahren; durch Vorträge, Lesungen und so weiter. Und ich habe da wirklich Zustände gesehen, die ich aus Ostdeutschland nicht mehr kenne, im öffentlichen Raum. Und deshalb müssen wir hier mehr Phantasie entwickeln; die Solidarität nicht nur richtungsmäßig, geografisch verorten, sondern dort, wo wirklich eklatante Notstände sind. Dort muß etwas geschehen.
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    Zettel



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