1. Januar 2013

Literarisches in ZR: Erst einmal ein Remake. Über Nutzen und Nachteil des Googelns

Literatur hat in ZR immer eine relativ große Rolle gespielt; wenn­gleich vielleicht eine weniger große, als ich es vor sechs­ein­halb Jahren vorgehabt hatte.

Gewissermaßen meinen Einstand in der Welt des Internet habe ich vor mehr als einem Jahrzehnt in einem sehr schönen kleinen Forum gegeben, dem "Literarischen Rätsel­salon"; betrieben von Regina aus Köln, mit exzellent belesenen und sehr netten Leuten; eine kleine Oase der Freundlichkeit, der Kultiviertheit, auch der Ironie.

Damals gab es Google noch nicht; nur einige in ihrem Gebrauchswert arg beschränkte "Suchmaschinen" wie Altavista.

Wer etwas gefragt wurde, der mußte die Antwort schon selbst wissen. Also fragte man einander nach Autoren, nach Zitaten, nach Nebensächlichem - etwa, wer einmal ein Theaterstück von Rudolf Augstein verrissen hat. Toll!

Das ging alles mit Google zu Ende. Die ersten, die dessen Möglichkeiten verstanden, hatten in Sekunden praktisch jede Lösung. Als das offenbar wurde, meinten einige, man sollte sich fairerweise verpflichten, nicht zu googeln. Eine schöne Utopie. Man kann sich nicht dümmer machen, als man ist; auch nicht uninformierter.

Meinen literarischen Interessen haben sich also hierher verlagert, in ZR. Wenn ich Zeit habe, stelle ich das vielleicht noch in einem weiteren Artikel ein wenig zusammen. Jetzt habe ich aber keine Zeit und mache deshalb ein Remake: Einen der literarischen Artikel, die ich für meine besseren halte. Erstmals publiziert im Oktober 2011: Literarische Randnotizen (4): Das Vergnügen beim Lesen von Lewis Carroll. Vermittelt durch Martin Gardner; ZR vom 15. 10. 2011




Kennen Sie dieses beklemmende Gefühl, fast könnte man sagen: dieses Endzeit-Gefühl, wenn man ein wunderbares Buch liest und es nun schon fast ausgelesen hat - bald wird das Vergnügen zu Ende sein?

Ich neige dann dazu, das Lesen ein wenig zu verlangsamen; es auch einmal zu unterbrechen. Ich möchte noch etwas vor mir haben von dieser angenehmen, vergnüglichen, beschwingenden Lektüre, von der ich am liebsten hätte, daß sie nie enden würde.

So ging es mir mit einem in jeder Hinsicht schönen Buch:
The Annotated Alice: The Definitive Edition. Geschrieben von Lewis Carroll, mit vielen Randglossen versehen von Martin Gardner, illustriert von John Tenniel. Ein bibliophil gestaltetes Buch, daß es eine wahre Freude ist.
Ich habe die Lektüre verlangsamt, indem ich sie an den Somst gekoppelt habe. Das Buch lag auf einem Fensterbrett auf dem Weg zum Garten; und nur im Garten, in der Sonne des Somsts, durfte ich dieses Buch lesen. Auch immer nur ein paar Seiten nacheinander.

Nun ist der Somst längst zu Ende; und das Buch ist definitiv ausgelesen. Vieles habe ich zweimal gelesen. Ein herausragendes Buch sollte man immer zweimal lesen; denn erst dann, wenn man das Ganze kennt, kann man die Details verstehen (den Hermeneutischen Zirkel nennt man das wohl).

Ja, aber ich bitte Sie, Zettel!, wird es Ihnen jetzt möglicherweise durch den Kopf gehen. "Alice im Wunderland"! Ein Kinderbuch, das wir doch alle kennen!

Daß mich, der ich der Kindheit ein wenig entwachsen bin, diese Lektüre begeistert hat, muß ich also erläutern.



Beginnen wir mit den Bildern. Wenn man ein illustriertes Buch aufschlägt, dann guckt man sich ja immer erst einmal die Bilder an. Auf das Verarbeiten von Bildern ist unser Hirn seit Millionen von Jahren trainiert; das Lesen ist eine Erfindung der Zivilisation, gerade einmal ein paar Tausend Jahre alt.

Hier sehen Sie eine der bekanntesten Illustrationen Tenniels, das verrückte Teetrinken (The mad tea party):

Sie werden sich an die Szene (im 7. Kapitel von "Alice im Wunderland") erinnern: Die Cheshire-Katze hatte Alice den Weg zum Haus des verrückten Märzhasen gewiesen; und da saßen sie nun im Garten vor dem Haus und tranken Tee: Der Märzhase, der ebenfalls verrückte Hutmacher und zwischen ihnen die Haselmaus, schlafend. Und hinzu trat Alice und nahm am Tisch Platz.

Als ich das als Kind las, fand ich es lustig, aber auch reichlich rätselhaft. Zum einen, weil ich mir unter einem Hutmacher und einem Märzhasen nicht viel vorstellen konnte. Zum anderen - warum waren die beiden verrückt? Warum schlief die Haselmaus?

Nun, das ist eben Nonsense-Literatur, werden Sie sagen.

Nonsense!

Um zu verstehen, was hier los ist, muß man lesen, was Martin Gardner an den Rand geschrieben hat; auf Seite 66: Die Redensarten mad as a hatter (verrückt wie ein Hutmacher) und mad as a March hare (verrückt wie ein Märzhase) waren zur Zeit Carrolls üblich.

Die Hutmacher nämlich wurden damals tatsächlich oft verrückt, weil sie Quecksilber verwendeten, um den Filz für die Hüte in Form zu bringen; über die Jahrzehnte führte das zu Hirnschäden. Die Hutmacher bekamen einen Tremor, der als "Hutmacher-Zittern" bekannt war. Im fortgeschrittenen Stadium entwickelten sie Sprachstörungen, Halluzinationen und psychotische Symptome.

Und der Märzhase? Haben Sie schon einmal Hasen im März beobachtet? Sie tollen herum, schlagen Kobolz, sind in ihrer Verliebtheit außer Rand und Band. Der Hase jagt die Häsin, dann geht man in den Boxkampf. Das ist zwar nicht nur im März so, sondern während der ziemliche langen Paarungszeit der Hasen; aber im März fällt es uns besonders auf. Ganz schön verrückt.

Beibt die Haselmaus. Warum schläft sie ständig, die Haselmaus? Weil sie auf Englisch eine dormouse ist; und darin steckt - das erfahren wir von Gardner auf Seite 70 - das lateinische dormire, schlafen.

Manche Übersetzungen versuchen ihren Namen mit "Schlafmaus" wiederzugeben. Aber das ist ganz daneben; denn die dormouse (muscardinus avellanarius) ist kein Phantasietier, sondern ein ganz reales. Und diese reale Haselmaus zeichnet sich durch einen ungewöhnlich langen Winterschlaf aus; meist bis in den Mai hinein. Sie ist des weiteren nachtaktiv, schläft also in der Regel tagsüber.

Deshalb also schläft sie, die Haselmaus, die dormouse, beim verrückten Teetrinken.



Das ist jetzt ein ganz triviales Beispiel für das, was in Alice's Adventures in Wonderland ("Alice im Wunderland") und in Through the Looking-Glass and What Alice Found There (meist mit "Alice hinter den Spiegeln" übersetzt) an Wissen, an wissenschaftlichen Anspielungen und in der Tat auch an schierem Lachen steckt, dem Lachen des Weisen.

Lewis Carroll, der als Charles Dodgson Professor der Mathematik war, interessiert auch an Logik, Linguistik und Philosophie, hat die beiden Bücher vollgepackt mit klugen, mit raffinierten und hinterhältigen Hinweisen. Dem Wissenden zur Freude; aber natürlich kann auch das Kind seinen Spaß an den skurrilen Traumerlebnissen von Alice haben.

Alice verschwindet in dem zweiten Buch nicht "hinter den Spiegeln", sondern sie geht durch einen Spiegel hindurch. Sie geht also hinein in jene virtuelle Welt, die wir sehen, wenn wir in einen Spiegel blicken. Hinein in ein Welt, in der manches invertiert ist (rechts und links zum Beispiel); anderes wiederum nicht (oben und unten zum Beispiel - woher eigentlich dieser Unterschied?).

Also steckt das Buch voller Themen, die etwas mit Inversion, mit Symmetrie und Asymmetrie zu tun haben. Martin Gardner untersucht das in seinen Randglossen liebevoll; er hat sich als Mathematiker selbst mit solchen Fragen befaßt.

Oder nehmen wir den Eierkopf schlechthin, Humpty Dumpty. Hier sehen Sie ihn auf seinem Mäuerchen, von dem er ständig zu fallen droht (das ist nur ein Ausschnitt aus der betreffenden Zeichnung von Tenniel):



Wie viele Figuren in den beiden Büchern ist Humpty Dumpty Kinderreimen entnommen; aber Carroll nutzt ihn, um auf lustige Weise Wissenschaftliches zu illustrieren. Hier geht es um Semantik:
"When I use a word," Humpty Dumpty said, in rather a scornful tone, "it means just what I choose it to mean—neither more nor less."

"The question is," said Alice, "whether you can make words mean so many different things."

"The question is," said Humpty Dumpty, "which is to be master that's all."

"Wenn ich ein Wort verwende", sagte Humpty Dumpty in einem ziemlich verächtlichen Ton, "dann bedeutet es genau das, was ich ihm an Bedeutung gebe - nicht mehr und nicht weniger".

"Die Frage ist", sagte Alice, "ob Sie einem Wort so viele verschiedene Bedeutungen geben können".

"Die Frage ist", sagte Humpty Dumpty, "wer der Herr ist; nichts anderes".
Humpty Dumpty ist, mit anderen Worten, ein Nominalist. Martin Gardner erläutert das (ab Seite 213) in einer langen Randglosse, die mitten hinein in die Logik führt. Bedeutet die Aussage "Alle A sind B", daß es A und B wirklich gibt? Wie ist es mit der Aussage "Einige A sind B"? Oder mit "Kein A ist B"?

Der Logiker Charles Dodgson hat sich mit solchen Fragen in seinem Werk zur Symbolischen Logik befaßt. Als der Autor Lewis Carroll hat er das spielerisch verarbeitet. Zu unserem Vergnügen. Zum Vergnügen vor allem derer, denen sich diese beiden wunderbaren Bücher dank der jahrzehntelangen Arbeit von Martin Gardner erst jetzt wirklich erschließen.
Zettel



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.Titelvignette: Eigene Aufnahme. Die Illustrationen sind in der Public Domain, da das Copyright abgelaufen ist.