5. Mai 2013

Die großen Missverständnisse über Kierkegaard. Ein Gastbeitrag von Ludwig Weimer

Sören Kierkegaard war einer der schöpferischsten Philosophen und Kirchenkritiker. Er blieb vielfach missverstanden oder wurde verkürzt auf einen psychologischen Entdecker der modernen Angst, der Masse und der Macht der Presse. Sein 200. Geburtstag im Mai 2013 bietet den Anlass, die Hauptpunkte der Irrtümer über diesen Dichter und Propheten aufzulisten und richtigzustellen.

Er habe, um seine literarische Produktivität durch sein Unglücklichsein zu steigern, seine Verlobung aufgelöst.

In Wahrheit hat er Luthers Weltlichkeit verteidigt, aber die spätere Verbürgerlichung der Pfarrhäuser angegriffen. Sein eigenes Unverheiratetsein begründete er wie Jeremia oder Paulus mit dem Einzelfall: Regine und eine Familie würden leiden müssen und nicht verstehen, was ihm passieren werde, wenn er die Existenz des Dichters in eine des Kirchenkritikers wandelt, d.h. seiner Berufung folgt. „Darf ein Grenzsoldat verheiratet sein? Ein vorgeschobener Posten, welcher Tag und Nacht im Kampf liegt?“ „Meine Verlobung mit ihr und der Bruch sind eigentlich meine Verlobung mit Gott.“ Er hat bis zu seinem Zusammenbruch mit 42 Jahren an der Spannung gelitten, im Glauben Ja zu sagen, aber als Theologe behauptete er die Synthese: „Wenn die eheliche Liebe nicht allen Eros der ersten Liebe in sich bergen kann, wäre das Christentum nicht die höchste Entwicklung des Menschengeschlechts.“

Er habe ein sauertöpfisches Leben in Verzicht und Leiden als einzig wahre Form der Nachfolge des Gekreuzigten gelehrt.

In Wirklichkeit zielte er auf einen weltmännischen, freilich unverkürzten Glauben, und maß diesen an der „Gleichzeitigkeit“ mit Jesus und den Aposteln. Das Ärgernis sei unausweichlich: „Nachfolger sein, indes nicht so ein geschminkter Nachfolger, welcher die Firma ausnützt“. „Man hört lauter Predigten, die passlicher mit Hurra statt mit Amen schließen würden.“ Es stimmt nicht, dass er das Christsein generell mit dem Martyrium in eins setzte.

Er habe seine psychologischen Entdeckungen nur zeitbedingt im Kontext des Christentums ausgedrückt; man dürfe in ihnen eine autonome Existenzphilosophie sehen.

In Wahrheit legte er einen Weg vom Dichter und Zweifler, unter pseudonymen Künstlernamen, zum bekennenden Propheten zurück, erst jetzt unter eigenem Namen publizierend. Die Angst, die er beschrieb, ist die Angst und die Flucht des Menschen davor, die Persönlichkeit zu werden, die der Schöpfer wollte. So definiert er den Sprung zum Glauben: „dass das Selbst, indem es es selber ist und es selbst sein will, durchsichtig in Gott gründet.“ Die Angst davor nennt er die Krankheit zum Tode. Der Glaubende sei froh wie ein Verliebter.

Jedes Kirchentum sei ihm verhasst gewesen, er habe keine Gemeinde gewollt, sondern den Christen als Einzelnen und als Individuum herausgestellt.

Dieses Missverständnis rührt daher, dass er gegen Hegels Interpretation des Christentums als Allgemeines und als Staatsphilosophie anschrieb, dass er statt Bewunderer Jesu Nachfolger Jesu wollte und dass er als erster die Gefahr der Macht der Masse erkannte. Die Menge der Getauften führte eben kein christliches Leben, sondern waren verweltlichte Sonntagschristen (die er mit Sonntagsjägern verglich), verantwortungsloses Publikum und kein Gottesvolk. Kierkegaard unterhielt bewusst eine Freundschaft zu einem Mitchristen, damit man nicht meinen könne, er verneine als Protestant das Element Gehorsam und Rat-annehmen im Kirchenbegriff.

Im Kampf mit dem Bischof und den staatsbeamteten Pfarrern sei er zum kompromisslosen Fanatiker geworden, zumindest habe er einen zu hohen Anspruch an die Normalmitglieder der dänischen Volkskirche gestellt.

Sein Ausgangspunkt war in Wirklichkeit: „Die Pfarrer bringen folgendes Kunststück fertig: das Christentum ist gar nicht da – dennoch leben sie davon.“ Er entdeckte seine Aufgabe, „ein Polizeitalent, um den Sinnentrug aufzudecken“ zu sein. Er behauptete nie, er selber sei schon ein Christ, aber er stellte sich dem Entlarven der traurigen Lage der Scheinreligion zur Verfügung: „Ich hab das Verbrechen begangen Gott zu lieben und mich bemüht als Spion die Verräterei offenbar zu machen.“ Er schrieb Flugblätter: „Erlöse vor allem das Christentum vom Staat; mit seinem Schutz und Schirm liegt es das Christentum tot.“ Er war nicht fanatisch, sondern verlangte nur das öffentliche Eingeständnis, damit das Evangelium nicht verdeckt bliebe, dann könne die Kirche zur Gnade Gottes Zuflucht nehmen.

Und so schrieb er über sich selbst im Sommer 1849 ins Tagebuch: „Ich war und bin willig genug, Gott zu bitten, dass er mir das furchtbare Geschäft erlasse; und außerdem bin ich selbst Mensch, liebe es auch, menschlich gesprochen, hier auf Erden glücklich zu leben. Aber wenn das Christenheit sein soll, christlicher Staat, was man jetzt allenthalben in Europa sieht: so gedenke ich, hier in Dänemark den Anfang zu machen und den Preis für das Christsein derart zu notieren, dass der ganze Begriff: Staatskirche, Beamte, Lebensunterhalt – in die Luft geht.“

Ludwig Weimer

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