20. Mai 2013

Werte in einer Revolution



Die 68er sind sehr stolz auf ihren gesellschaftlichen Einfluss, den zu betonen sie nicht müde werden. Ohne sie rängen wir immer noch in einem prüden, patriarchalen, postdiktatorischen Staat um Bürgerrechte. Freiheit und Emanzipation als Grundlage der deutschen Bürgergesellschaft verdanken wir angeblich den Trägern des „kleinen roten Buches“.

Bestehende Werte wurden dafür in Frage gestellt und angegriffen. Manche nannten dies eine Revolution. Ein Teil davon war die Sexuellen Revolution welche auch für einen Kindesmissbrauch jenseits der Pädophilie zu stehen scheint.


Nach der Diskussion um die Verleihung des Theodor Heuss Preises an Daniel Cohn-Bendit stellte sich mir die Frage nach einer möglichen anderen Begründung für den sexuellen Missbrauch an Kindern, als den der Pädophilie. 
Eine, die der Erklärung der Täter näher kommt, die jede pädophile Neigung empört zurückweisen.

Sophie Dannenberg hat am 17. Mai einen, wie ich meine, exzellenten Artikel im Cicero geschrieben, der in diese Richtung weist. Sie schreibt:
Unsere Eltern taten das nicht, weil sie pädophil waren. Sie taten es, weil sie Sex mit Kindern für fortschrittlich hielten, weil sie dachten, dass Scham und Hemmung bourgeois seien und weil es entsprechende Texte von Wilhelm Reich und Fotobücher von Will McBride gab, wo missbrauchte Kinder fröhlich in die Kamera lachten. 
Scham und Hemmung mag für die einen bourgeois sein, vor allem aber sind sie  Werte, die einen Entwicklungsstand unserer Zivilisiertheit darstellen. Sie unterscheiden uns, neben anderen Werten, von Zivilisationsstufen die Generationen vor uns durchliefen und hinter sich brachten. 
Die Revolutionäre von 1968 hinterfragten zum Zweck der Relativierung. Und ihre Philosophen waren die des gefährlichen Vielleicht, welche Friedrich Nietzsche heraufkommen sah:
Es wäre sogar noch möglich, dass was den Werth jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein. Vielleicht! — Aber wer ist Willens, sich um solche gefährliche Vielleichts zu kümmern! Man muss dazu schon die Ankunft einer neuen Gattung von Philosophen abwarten, solcher, die irgend welchen anderen umgekehrten Geschmack und Hang haben als die bisherigen, — Philosophen des gefährlichen Vielleicht in jedem Verstande. — Und allen Ernstes gesprochen: ich sehe solche neue Philosophen heraufkommen.
Während Nietzsche noch frug, taten die Anhänger des Poststrukturalismus was Nietzsche vorhersah. Sie setzten das „Vielleicht“ an die Stelle des Sinns und einer Bedeutung von Aussagen. 
So konnte aus sexuellem Missbrauch Kindersex werden, gegen den nichts einzuwenden war, wenn ihm der Zwang, die Gewalt fehlte. Noch einmal Sophie Dannenberg in Ihrem Artikel "Einige von uns wurden sexuell missbraucht.":
Ich kann mir nicht vorstellen, dass in jenen hermetischen Diskussionen jemals der Begriff „sexueller Missbrauch“ fiel, er war damals kein Topos. Rückblickend könnte man sagen, sie haben es nicht so gemeint. Sie haben es anders gemeint. Im Grunde haben sie nur ihre revolutionäre Pflicht getan.
Sie haben es anders gemeint, nicht als Missbrauch. Sie haben dem, was nicht nur nach Recht und Gesetz Missbrauch ist, einen vorläufigen anderen Sinn gegeben. Aus böse wurde nicht einfach nur gut. Böse und gut  wurden relativiert, irreal und ihr Geltungsanspruch zerschlagen. 
Der Philosoph Jacques Derrida beschrieb diese Dekonstruktion lt. Wikipedia als Différance:
Derrida akzeptiert nun zunächst diese Oppositionsstruktur von Sprache, aber lehnt gleichzeitig die Idee ab, dass diese Oppositionen in irgendeiner Form 'wahr' oder 'real' seien. Er sieht die Aufgabe seiner Dekonstruktion darin, diese Oppositionen als willkürlich und irreal zu entlarven und ihren Geltungsanspruch zu zerschlagen. Methodisch erreicht die Dekonstruktion das, indem sie die vermeintlichen Gegensätze ineinander integriert oder aneinander aufhebt und in unüberwindliche Widersprüche verwickelt. (…) Der Textsinn ist daher nicht willkürlich im Sinne der Differenzwillkür, sondern obendrein temporär und relativ, weil er in einer permanenten Schleife der Aufschiebung zirkuliert.

Was hier als Differenzwillkür bezeichnet wird, ist nichts weiter als die Existenz von Definitionen als Grundlage für Rechtssicherheit. Natürlich auch für Kinder.

Begriffe ändern mit der Zeit ihre Bedeutung durch eine Anpassung an ihren Kontextgebrauch. Dieser sich langsam vollziehende sprachrevolutionäre Prozess hat nichts mit der Relativierung jedes Sinnes und jeder Bedeutung zu tun. Auch nicht mit dem Versuch einen Begriff in sein Gegenteil zu verkehren, wie es Derrida hier aufzeigt:

Im Folgenden wird der Satz "Der Geist der Antike wirkt bis heute fort." zerschoben und opponiert:

DER > Warum `der` und nicht `ein, eine, die, das, diese`? Warum ist es wichtig, dass es ein `der` ist? Ist `der` besser als `das`? Hat das Nachfolgende einen Phallus oder ist sonstwie als männlich nachweisbar? Warum nicht: NICHT_DER?DER GEIST > Wieso `Geist`, und was ist eigentlich das Gegenteil von `Geist`? Ist es `Substanz, Natur, Vernunft, Genie, Gespenst, Sinn, ..`? Warum ist `Geist` männlich? Wer hat das entschieden? Wäre das Gegenteil als `DIE GEIST` genauso möglich? Was ändert sich dadurch? Warum nicht: NICHT_DER NICHT_SUBSTANZ?DER GEIST DER > Wieso `der ... der`? Wird hier eine Hierarchie aufgebaut? Was ist drüber und drunter? Liegt hier eine Wertung vor, und was ist dann besser - drüber oder drunter? Ist das Eine ein Teil des Ganzen? Aber wie kann das Ganze ein Ganzes sein, wenn es in Teilen existiert? Können Teile zusammen ein Ganzes ergeben? Und wieso schon wieder `DER` - gibt es hier sachlich besehen wirklich nichts Weibliches oder soll das Weibliche nur verleugnet werden? Was ist eigentlich das Entscheidende am Männlichen, dass "DER" Artikel `DER` bevorzugt wird? Warum nicht: NICHT_DER NICHT_SUBSTANZ NICHT_DER?DER GEIST DER ANTIKE > `Antik` im Gegensatz zu: was? Gibt es überhaupt ein Gegenteil und kann `Klassik, Altertum, Steinzeit, Raumschiff Enterprise, gestern` eins sein? Wie antik kann die Antike sein, und was macht sie antik? Ist die Antike antik aufgrund ihrer Antikheit? Wenn sie so anders ist - warum berufen wir uns dann ständig auf die Antike, um uns von ihr abzusetzen? Sind wir ihr (leider?) so ähnlich, dass wir uns ständig begrifflich von ihr abgrenzen möchten? Wie antik ist denn die Gegenwart oder die Zukunft? War der antike Geist wirklich männlich? Ist der Geist ein Teil der Antike oder ist die Antike ein Teil des Geistes?DER GEIST DER ANTIKE WIRKT... > Wieso `wirkt`? Ist `wirkungslos` nicht genauso belegbar wie `wirken`? Wie will man die behauptete Wirkung denn beweisen? Wie kann ein immaterieller, aber offenbar mit männlichen Genitalien oder Merkmalen ausgestatteter Nicht-Substantieller überhaupt irgendwas `wirken`? Ist das nicht alles reichlich vage und spekulativ? Steckt hier nicht eine reichlich willkürliche Festsetzung von Wirklichkeit, eine hohle Phrase ohne jeden vernünftigen Sinn zwischen den Wörtern? Kann man nicht auch sagen: `Die Materie die Zukunft beunwirkt...`? Ist das wirklich soviel sinnloser als `Der Geist der Antike wirkt`? …
Nietzsche, oft bewusst oder unbewusst falsch interpretiert, hatte, als einer der gut austeilen konnte (Der Antichrist) nur die Existenz absoluter Wahrheiten in Frage gestellt. Diejenigen, vor denen er warnte, relativierten so weit, bis keine Werte mehr erkennbar waren. So wie die 68er. 
Da kommt die Frage auf, was gefährlicher für eine Gesellschaft ist; Pädophile denen man mit Recht und Gesetz entgegentreten kann oder eine Revolution der Werte, welche von ihnen nicht mehr übrig lässt als Hermeneutik?



Erling Plaethe


© Erling Plaethe. Mit Dank an Frank Böhmert sowie Sophie Dannenberg und dem Cicero
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