23. Juni 2013

In der freien Natur. Ein Gastbeitrag von Ludwig Weimer

„Die freie Natur. - Wir sind so gerne in der freien Natur, weil diese keine Meinung über uns hat.“ Über diesen psychologischen Aphorismus Nietzsches (Menschliches, Allzumenschliches I, Nr. 508) mag man schmunzeln oder sich ärgern. Ich nutze ihn zu einer sommerlichen Besinnung.

Was drängt uns Nordeuropäer so an die frische Luft? Ich meine nicht das Essen auf der Terrasse, das Grillen am Flussufer oder die sportlichen Varianten. Warum fällt zuhause die Decke über uns? Andere Autoren meinen ja, alles Unglück rühre daher, dass der Mensch auch nicht einen Tag in seinem Zimmer in Ruhe bleiben könne. Was freut uns an den Wiesen- und Waldwegen, an dem Auf und Ab von Hügeln? Welche Flucht oder Zuflucht könnte Nietzsche meinen? Er denkt nicht an das romantische Suchen nach der blauen Blume oder an das träumerische Fühlen der Pantheisten, sondern offensichtlich an ein Entkommen aus den Erwartungen der Menschheit an mein armes Ich.

Meinte Nietzsche: In Gesellschaft werde ich beurteilt, zurechtgewiesen, versuchen mich andere zu übertreffen; in der freien Luft bin ich der Erste? Oder ist dies gar kein Entweder-Oder? Zum Fortschritt des Denkens bedarf ich der andern, zum geistigen Verdauen brauche ich dann die Einsamkeit. Und ich wähle die freie Luft, um mich auch der Übereinstimmung mit der Welt zu versichern?

Nietzsche hat im erwähnten Werk auch dies notiert (II, Nr. 49): „Im Spiegel der Natur. – Ist ein Mensch nicht ziemlich genau beschrieben, wenn man hört, dass er gern zwischen gelben hohen Kornfeldern geht, dass er die Waldes- und Blumenfarben des abglühenden und vergilbten Herbstes allen andern vorzieht, weil sie auf Schöneres hindeuten als der Natur gelingt, (…) dass er unbehauenes Gestein als übriggebliebene, der Sprache begierige Zeugen der Vorzeit empfindet? (…) – Ja, etwas von diesem Menschen ist allerdings damit beschrieben, aber der Spiegel der Natur sagt nichts darüber, dass derselbe Mensch, bei aller seiner idyllischen Empfindsamkeit (und nicht einmal ‚trotz ihrer‘), ziemlich lieblos, knauserig und eingebildet sein könnte. Horaz, der sich auf dergleichen Dinge verstand, hat das zarteste Gefühl für das Landleben einem römischen Wucherer in Mund und Seele gelegt, in dem berühmten ‚beatus ille qui procul negotiis‘.“ (Glücklich, wer fern von Geschäften)

Man sieht oft Spazier- oder Wandergruppen: die Männer für sich voraus, ihre Frauen folgen für sich; man ahnt die Themen ihrer Gespräche. Dort Fußball, da Kochrezepte. Hier aber, in der philosophischen Besinnung, geht es um den, der allein sein will mit Landschaft und Wind. Welche Hilfe sucht dieser stundenweise Einzelgänger bei der Natur?

Keiner versteht mich - das kann mehr bedeuten als ein Jugendproblem. Heine dichtete in diesem Sinn über die Jugendtage: „Ich floh in die grüne Waldeinsamkeit. / Im Wald, im Wald! Da konnt ich führen / Ein freies Leben, mit Geistern und Tieren.“ Aber wir Erwachsenen? Eichendorff wollte im Freien offenbar sein Herz sprechen hören: „O Täler weit, o Höhen, / O schöner grüner Wald, / Du meiner Lust und Wehen / Andächtger Aufenthalt! / Da draußen, stets betrogen, / Saust die geschäftge Welt“. Cemens Brentano kämpfte ebenso mit Schwermut und Wehmut, aber ihn tröstete nicht einmal die Landschaft, sondern nur der Wunsch zu den Sternen hinaufzufliegen.

Noch in der Moderne findet man die Schriftstellerlust an der Naturbeschreibung. Z. B. bei Roger Caillois, Steine; oder bei Francis Ponge, Das Notizbuch vom Kiefernwald. Bei diesem, von Peter Handke übersetzt, lautet das so: „Alpine Brosserie, umstellt von Spiegeln / Mit Griffen auf purpurnem Holz, obenauf bebuscht mit grünen Borsten: / In dein warmes Zwielicht, gefleckt mit Sonne, / Kam sich frisieren Venus (…) Daher auf dem Boden die dicke Schicht, elastisch und rotschimmernd / Stark duftender Haarnadeln / Abgeschüttelt von so vielen achtlosen Wipfeln“.

Es geht beim Europäer nicht, ohne die antiken Götter aufzurufen. Mit der theoretischen Alternative Waldgang ist selbst der kirchgängerische Katholik spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg aufgewachsen: Gott könne man besser in Wald und Flur anbeten als in der Kirche. Zur reifen Schulzeit las man bei Gottfried Keller: „Das Christentum ist aus der Welt geflohn / in alten Schutt und wimmert dort im Staube; (…) Ich bin im Freien! Süßer Sonntagsglaube!“ Und: „Doch unten in des Kirchleins Tiefen / die Hörer auf den Bänken schliefen. (…) Die Predigt schweigt, sie sind erwacht, / die Kirchentür wird aufgemacht, / und leuchtend bricht der grüne Schein / der Bäume in die Dämmrung ein.“

Der medialen Überflutung entkommen, streife ich am Waldessaum Zecken auf meine Beine oder liege unter der Sonne, die Wölkchen meditierend und den Ameisen trotzend. Die Gedanken sind schwer zu bändigen. Sie fliehen leicht aus dem Gewissen in die akademische Analyse der lyrischen Innen-Außen-Entsprechung. Wie stiegen die Gedichte in Sturm- und Drangzeiten Gebirge hinauf zu Felsen und Sturm und Wolken! Was sagte Goethe über seine rastlose Liebe? „Dem Schnee, dem Regen / Dem Wind entgegen, / Im Dampf der Klüfte, / durch Nebeldüfte, / (…) Glück ohne Ruh, / Liebe, bist du.“ Oder es sind seine Augen, die regnen: „Fetter grüne, du Laub / Am Rebengeländer / Hier mein Fenster herauf! / Gedrängter quellet, / Zwillingsbeeren (…) euch betauen, ach! / Aus diesen Augen / Der ewig belebenden Liebe / Vollschwellende Tränen.“ Und doch begnügte sich der alte Goethe mit einer Lolita.

Meine Gedanken sind schon woanders: Wo keine Jauche hinkam, gibt es immerhin noch Blüten. Aber die Schmetterlinge und Hummeln scheinen fast ganz zu fehlen. Und viele Talabschlüsse hat die Hysterie der Deutschen durch Windkrafträder verschandelt. Deren halbträge Geschwindigkeit nervt.

Man wünscht sich ästhetisch immer einen Flügel mehr. Oder sollen die Vögel und die Fledermäuse bei nur dreien besser hindurchwitschen?

Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein. Hier kritisiere ich die anderen und alle anderen lassen mich in Ruhe.

Wenn man einen neuen Weg geht, erscheint einem der Weg länger, da man ihn intensiver wahrnimmt und speichert (Nimmt man denselben auch zum Rückweg, staunt man über seine scheinbare Verkürzung). Bei schon bekannten Wegen in der freien Natur wartet man im Voraus auf den nächsten im Gedächtnis bewahrten Merkpunkt. Die besonderen Marksteine, Wasserrinnen, Bäume, Wurzeln sind gleichsam in uns als Bekannte, die uns in Ruhe lassen. Nietzsche könnte Recht haben. Sie haben keine Meinung über unsere Schwächen und Fehler und äußern keine Kritik an uns. Merkwürdig ist ja auch, wie es gelingt, beim Essen und Trinken auf der Terrasse einer Berghütte die Anwesenheit der Fremden, selbst wenn viele Wanderer und Biker eingekehrt sind, einfach wegzublenden, sogar ihre Stimmen. Die notwendigen eigenen höflichen Worte werden wie zur Luft gesprochen. Die Selbstbedienung kommt der Absicherung der eigenen Person noch entgegen.

Die Lust am Nicht-Garten der Wildnis ist für uns Zivilisierte zum Paradiestraum geworden. Wir lieben die unberührte Natur der Jäger- und Sammlerzeit. Wölfe, Bären und Wildkatzen sind wieder eingeführt wie die Adlerpaare für das Revier ihrer Quadratkilometer.

Die Gefährdetheit der Natur hat in der grünen Bewegung einen Patron gefunden. Will man jedoch die Schuld des Menschen daran theologisch ausgedrückt finden, muss man zu Annette von Droste-Hülshoff zurückgreifen. Sie konnte vom Zusammenhang schwärmen: „Süße Ruh‘, süßer Taumel im Gras / Von des Krautes Arom umhaucht (…). Dennoch, Himmel, immer mir nur / Dieses Eine nur: für das Lied / Jedes freien Vogels im Blau / eine Seele, die mit ihm zieht.“ Sie konnte aber auch ihre erschreckende Einsicht als „Gottes hartgeprüftes Kind“ benennen: „Da ward ihr klar, wie nicht allein / Das schwergefangne Gottesbild / Im Menschen, wie’s in dumpfer Pein / Im bangen Wurm, im scheuen Wild, / Im durst’gen Halme auf der Flur, / Das mit vergilbten Blättern lechzt, / In aller Kreatur / nach oben um Erlösung ächzt.“ Dieses letzte Gedicht aus dem Rüschhaus über den „Mord an der Natur“, die „Schuld des Mordes an der Erde Lieblichkeit“ blieb Fragment.

Ich habe bei Schopenhauer (Die Welt als Wille und Vorstellung I, 3. Buch §39) nachgesehen, wie ein Neuheide dazu steht. Er schreibt: „Versetzen wir uns in eine einsame Gegend, mit unbeschränktem Horizont, unter völlig wolkenlosem Himmel, Bäume und Pflanzen in ganz unbewegter Luft, keine Tiere, keine Menschen, keine bewegten Gewässer, die tiefste Stille; - so ist solche Umgebung wie ein Aufruf zum Ernst, zur Kontemplation, mit Losreißung von allem Wollen und dessen Dürftigkeit.“ Einen höheren Grad sieht er in der Umgebung nackter Felsen und eine noch höhere Ehrfurcht vor dem Erhabenen unter Gewitterwolken oder Wasserfällen. Schließlich beschreibt er den Kampf mit Naturmächten, mit häuserhohen Wellen als Spitze der Selbsterkenntnis des Individuums und seiner Hinfälligkeit. Von da wendet er sich der Betrachtung des Weltalls zu, das uns zu einem Nichts verkleinert und zugleich erhebt: denn nur wir Menschen wissen um diese Größe und diese ruht jetzt in uns.

Das können wir bei ihm lernen: In der freien Natur – das bedeutet: herauszutreten aus sich und sich den Fragen des Kosmos an uns und seiner erhaben-stillen Meinung über dich und mich zu stellen.

Ludwig Weimer

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