6. Oktober 2013

Das Bootsunglück vor Lampedusa und das Kreuz mit der Verantwortung

Natürlich habe ich menschlich betroffen reagiert, als dieser Tage von dem Flüchtlingsdrama zu lesen war, das sich vor der Insel Lampedusa, mit wohl an die 200 Toten, abgespielt hat. Man müßte schon sehr empathiebefreit sein, um dieses Unglück nicht zu bedauern. Jedoch war diese menschlich-mitfühlende Reaktion vom ersten Moment an gleichsam kontaminiert und durchsetzt von der Vermutung, daß in den darauffolgenden Tagen wohl wieder einmal eine völlig verquaste Diskussion aufbranden würde über die Frage, wer die Verantwortung bzw. die Schuld für dieses Unglück trage und welche Schlußfolgerungen daraus nun zu ziehen seien. Und so kam es denn auch.
­Idealtypisch findet sich die absurde Verantwortungs- und Schuldlogik in einem Kommentar von Christian Bartlau, der aktuell auf der Internetpräsenz des Nachrichtensenders n-tv zu lesen ist. Der Tenor läßt sich leicht zusammenfassen: Europa ist verantwortlich für Leben und Schicksal (und folglich auch für den Tod) der Flüchtlinge, die sich via Mittelmeer nach Europa aufmachen. Anders gesagt: die Europäer sind schuld am Tod dieser Menschen, und zwar aufgrund der angeblich viel zu restriktiven Einwanderungspolitik. Lösung: alle Flüchtlinge, notabene: jeden, der nach Europa will, dies auch zu ermöglichen, damit niemand mehr die Gefahren einer solchen Überfahrt auf sich nehmen muß.
In der Praxis müßte das dann wohl auf einen kostenlosen, von der EU bereitgestellten, Shuttleservice im Pendelverkehr zwischen Europa und Nordafrika, hinauslaufen. Es wären dann bestimmt nicht allzu viele Flüchtlinge, die dann kämen, so scheint der Autor Bartlau allen Ernstes zu glauben.

Wir, die Europäer, sind also verantwortlich für den Tod der Flüchtlinge. Man kennt das schon mal aus US-Filmen. Der Bankräuber hält die geladene Waffe an die Schläfe der Kassiererin und schreit den Bankdirektor an: "Machen Sie sofort den Tresor auf, sonst haben Sie Ihre Mitarbeiterin auf dem Gewissen!" Oder auch die Entscheidung einer Frau, einen kurzen Rock zu tragen, die aus Tätersicht die Vergewaltigung herbeigeführt habe. Es ist sozusagen  eine dissoziale Verantwortungslogik, und sie ist in ihrer sozialromantisch verbrämten Form in der Mitte der Gesellschaft angekommen: Jeder ist für alles und jeden verantwortlich, außer für sich selbst und seine Handlungen; da ist es dann der Staat.

Nicht die individuelle Entscheidung der Flüchtlinge, das Risiko einer Flucht über das Mittelmeer auf sich zu nehmen, hat zu deren Tod geführt.  Nicht die kriminellen Schlepper- und Schleuserbanden, die bis zu 10.000 Dollar an jedem Flüchtling verdienen und sie dafür auf schrottreifen Booten übersetzen, sind verantwortlich für den Tod der Flüchtlinge. Nicht die Despoten in den Herkunftsländern oder überkommene Familien- und Clanstrukturen, die bis heute den Aufbau funktionierender Zivilgesellschaften und wirtschaftliche Prosperität verhindern, bilden den Verantwortungshintergrund solcher Dramen; alles Faktoren übrigens, auf die die Europäer bestenfalls geringen Einfluß haben, wenn überhaupt. Einfluß, ja Macht, ist aber nun einmal das zentrale Bestimmungsstück von Verantwortung, ansonsten konnte man Lieschen Müller ja gleich für das Wetter verantwortlich machen. 

Umgekehrt sind Einflußmöglichkeit und Verantwortung  keineswegs identisch. Wenn ich mein gesamtes Einkommen nähme und mein Girokonto überzöge, und all dieses Geld an "Brot für die Welt" spendete, könnte ich vermutlich einer ganzen Reihe Menschen das Überleben kurzfristig sichern helfen (auf die schädlichen Konsequenzen und Nebenwirkungen von Spenden für die Betroffenen sei hier nur andeutend hingewiesen). Ich rettete kurzfristig mutmaßlich Leben dadurch. Aber man muß schon sehr verquer denken, um mir, da ich dergleichen nicht im Entferntesten vorhabe, die Schuld am Tod von Menschen, etwa in der Sahelzone, zu geben.

Dabei ist gegen humanitäre Hilfe, welcher Art auch immer, gegenüber Flüchtlingen natürlich nichts zu sagen. Aber hier ein Schuld- und Verantwortungsszenario aufzubauen um Zugeständnisse von Regierungen in der Flüchtlingsfrage und Zustimmung der Bevölkerungen zu einer dann erwartbar massiv ansteigenden Zuwanderung aus Nordafrika mit moralischen Scheinargumenten zu erzwingen, geht nicht nur an der Sache vorbei, sondern ist vor allem auch ausgesprochen dreist.

In anderen Kommentaren zu dem Unglück wird die Bekämpfung der "Ursachen" der Flüchtlingsströme nach Europa gefordert. Interessanterweise bleiben diese Ursachenzuschreibungen dann aber oft im Ungefähren; wohl mit gutem Grund: die Ursache der Fluchtbewegungen von Nordafrika nach Europa ist so einfach wie unlösbar. Sie liegt schlicht und ergreifend im Wohlstandsunterschied zwischen den Kontinenten (nur ein niedriger einstelliger Prozentsatz der Asylbewerber wird am Ende als politisch oder religiös verfolgt anerkannt). Dieser erzeugt einen "osmotischen Druck" der Migration, der so lange aufrecht erhalten bleiben wird wie dieser Wohlstandsunterschied besteht. Das Problem bei der "Ursache" zu packen hieße also letztlich einen massiven Wohlstandstransfer von Nord nach Süd vorzunehmen, bis sich die Unterschiede weitgehend auflösten. Daß dies ökonomisch freilich am Ende, schon aufgrund der bloßen Bevölkerungszahlen, afrikanische Verhältnisse für Europa bedeutete, gehört wohl zu den Kleinlichkeiten, über die der wohlmeinende Journalist, die großen Linien der Politik fest im Blick, indigniert hinwegsieht.

 
Andreas Döding


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