19. Oktober 2013

Und wenn er nicht gestorben ist …


Heute bin ich durch ein Stück Landschaft gewandert, das es eigentlich nicht mehr geben dürfte. Denn vor circa dreißig Jahren wurde dieses Ökosystem bei lebendigem Leib zu Grabe getragen. Die Rede ist natürlich vom Wald.
Es ist nun ungefähr drei Dekaden her, dass in Deutschland der Forstnotstand ausgerufen wurde: Dem Wort „Waldsterben“ wuchsen Flügel, es wurde zu einem Etikett für eine scheinbar drohende Plage biblischen Ausmaßes.
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Im Online-Portal der FAZ ist gestern zu diesem Thema ein äußerst lesenswerter Beitrag erschienen, der letztlich zwei Kernfragen stellt: Gibt es ein richtiges Handeln unter falschen Prämissen? War das beschworene Katastrophenszenario eine Art self-precluding prophecy, also eine Vorhersage, deren Inhalt nur durch konsequente Reaktionen seitens der Politik vereitelt worden ist?
Die erste Frage kann man wohl – jedenfalls abstrakt – bejahen. Denn dass die ergriffenen Maßnahmen nicht die gewünschten Effekte erzielen, schließt ja keineswegs aus, dass sie sich nicht anderweitig positiv auswirken. Dass dabei gegebenenfalls unnötig viel Geld zum Fenster hinausgeworfen wird, ist selbstverständlich ein problematischer Teil der (in gewissen Hinsichten guten) Lösung.
Dagegen lautet die Antwort auf die zweite Frage ganz klar „Nein“, wenn man sich dem Tenor eines vor neun Jahren in der ZEIT erschienen Artikels anschließt. Autor dieser Nachzeichnung des Geschehensablaufs ist Günter Keil, ehemaliger Mitarbeiter des Bundesforschungsministeriums und heute einer der Kontribuenten des Science-Skeptical-Blogs. Ursachen der beobachteten Baumschäden seien, so Keil, ein Magnesiummangel im Boden sowie Frost und Trockenheit gewesen. Ein (notwendiges) umweltschützerisches Instrumentarium sei bereits vor der Entdeckung der vermeintlichen Blätterdämmerung bereitgestellt worden und zum Einsatz gelangt.
Erhellend ist Keils Beschreibung des Dilemmas, in dem sich die Bundesregierung seinerzeit befand:
„Dies offenbarte die ganze Tragik der Untergangsgläubigen: Sie konnten sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet Berichte der Regierung Kohl wissentlich ein viel zu pessimistisches Bild wiedergaben. […]
Die Regierung saß hilflos in der selbst gestellten Falle. Um die Umweltverbände zu beschwichtigen, hatte sie leichtsinnig die dauerhafte Waldschadenserhebung beschlossen – und zum Dank wurde sie nun alljährlich für neue und stets falsche Schreckenszahlen geprügelt.“
Überhaupt ist die gesamte Chronik der dem dunklen Tann oktroyierten Krankensalbung ein Lehrstück für die Dynamik politischer Skandale, für das konzertierte Zusammenwirken von Medien und Interessenverbänden, um die Empörungsschwelle auf hohem Niveau zu halten, sowie für den verschwörungstheoretisch angehauchten Argwohn, der Politikern stets unterstellt, sie enthüllten nur die Spitze des Eisberges.

Sobald sich das Horrorszenario als Bluff erwiesen hatte, schwoll der Heulton der Empörung weitgehend unerklärt ab. Das Waldsterben verschwand einfach aus dem - damals noch kerngesunden - Blätterwald. Das Decrescendo unterbrachen nur einige kakophonische Soli, vorgetragen von Journalisten, die sich jetzt über die Desinformation beschwerten, die sie noch im Akt zuvor unisono mit dem Chor der Kassandren als Schönfärberei angeprangert hatten. 
Sowohl Günter Keil als auch der im verlinkten FAZ-Beitrag zitierte Meteorologe Hans von Storch kommen zu dem Schluss, dass sich die Wissenschaft disqualifiziert hat, indem sie beim Läuten der Alarmglocke an vorderster Front mithalf und die Farben der Darstellung zumindest bedingt vorsätzlich allzu düster wählte.
Warum wollen auch Gelehrte, die eigentlich zu Skepsis, Zweifel, Relativierung und einer Offenheit gegenüber abweichenden Positionen neigen müssten, das Menetekel auf einer völlig weißen Wand sehen? Die Antwort darauf gibt Hans von Storch fast ganz am Ende des FAZ-Artikels:
„Wir Menschen haben die Vorstellung entwickelt, dass die Natur uns mitteilt, wie stark wir sündigen“.
Diese fixe Idee ist vermutlich eine für die conditio humana typische Selbstüberschätzung: Glaubte man früher noch daran, dass Gottlosigkeit und Sittenverfall die Ursache der Verheerungen seien, ist es heute die elektrifizierte und elektronisierte Lebensweise, die den Gegenschlag der Elemente auslösen soll. Im Ergebnis ist es ja eher beruhigend, Naturkatastrophen auf das verwerfliche Handeln des Menschen zurückzuführen, würde dies doch bedeuten, dass Unheil und Beschwer durch Umkehr und Buße aus der Welt zu schaffen wären.

Wenn hingegen die Urgewalten um uns herum einfach machten, was sie wollten, und von unserem Tun und Lassen herzlich wenig berührt würden: Wäre das nicht einerseits eine narzisstische Kränkung und andererseits eine höchst beängstigende Vorstellung, weil sich die Büchse der Pandora dann ja auch öffnen könnte, obwohl wir unsere Tage fromm und rechtschaffen beziehungsweise CO2-neutral und nachhaltig zugebracht haben? 

Diese Gedanken waren schnell vergessen, als ich aus dem Baumbestand heraustrat. Das Waldsterben ist tot. Es lebe der Wald.
Noricus


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