14. Januar 2014

Meckerecke: Von Unbedenklichkeitsbescheinigungen und Gesslerhüten


In Internetnutzerkreisen dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben, was ein Shitstorm ist. Dessen stimmungsmäßiger Widerpart, der sogenannte Candystorm, erfreut sich im Vergleich dazu einer geringeren Bekanntheit und einer niedrigeren Anwendungsfrequenz. Zielscheibe eines vielbeachteten virtuellen Zuckerlbombardements (Synonyme: Flauschstorm, Lovestorm) war die von der Parteibasis der Grünen als Bundestagswahl-Spitzenkandidatin verschmähte Claudia Roth.

Die Qualitätsmedien rümpfen zwar oft und gerne über die plebejischen Sitten im Neuland des World Wide Web die nach oben gerichtete Nase. Den Karamellenwurf vom Faschingswagen verschmäht aber auch der Premium-Journalist nicht, wenngleich er einen solchen Ermutigungsakt wohl eher mit einer Vokabel wie „Solidaritätsadresse“ bezeichnen würde.

Den jüngsten derartigen Verbalsupport erhielt der ehemalige Fußballprofi Thomas Hitzlsperger, der nun nach dem Ende seiner Sportlerkarriere seine Homosexualität öffentlich gemacht hat. Dieses Coming-out mochte man – im Vergleich zu anderen auf der Tagesordnung stehenden Themen – als reichlich uninteressant empfinden. Das Medienecho war nichtsdestoweniger enorm: Beim gefühlt fünfzigsten Artikel, der einem in den Online-Portalen der großen Tages- und Wochenzeitungen mit den immergleichen Textbausteinen „Mut“ und „Respekt“ entgegensprang, dürfte sich wohl bei vielen Betrachtern ein gewisser Überdruss eingestellt haben.
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Selbst in den Leitmedien wurde das Dauerfeuer der Elogen durchaus (selbst)kritisch betrachtet. So ärgerte sich etwa Georg Diez in seiner SPIEGEL-Online-Kolumne über „zwei Tage 'Wir sind alle schwul'-Ausnahmezustand“ und charakterisierte den Hype zu Recht als
[m]al wieder eine Diskussion über Nachrichten ohne Neuigkeitswert, mal wieder eine überraschungsfreie Selbstbespiegelung der Medien untereinander, mal wieder eine Verstärkung des ewig Gleichen zum Getöse[.]
Jasper von Altenbockum sprach in der FAZ gar von der „Rocky Horror Hitzlsperger Show“. Und ausgerechnet das Zentralorgan der politischen Korrektheit und der richtigen Gesinnung, die TAZ, brachte das, was an dem kollektiven Enthusiasmus der Presse so sehr ennuyierte, in drei Sätzen auf den Punkt:
Und wenn Heterosexuelle Homosexuelle für ihren Mut loben, dann stellt sich die Frage, wem diese Bekundung eigentlich gilt. Und wem sie hilft. Am Ende wohl eher dem Lobenden selbst.
Nachdem sich nun alle, die wollten, selbst oder gegenseitig eine moralische Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt haben, könnte man sich eigentlich wieder den wichtigen Agenden dieses Landes widmen. Doch dann kommt ausgerechnet der AfD-Vorsitzende Bernd Lucke und gießt Öl ins (gottlob) verglimmende Feuer dieses überflüssigen Diskurses.

Dabei gibt Lucke durchaus einen Anhaltspunkt für gewinnbringende Reflexionen, wenn er fragt, wie viel Mut Jahre nach Klaus Wowereits und Guido Westerwelles Coming-out dazugehöre, coram publico die eigene sexuelle Orientierung zu thematisieren. Die Antwort auf diese Frage wird kaum pauschal ausfallen können. In der Mehrheitsgesellschaft erfordert die Offenbarung, schwul zu sein, wohl weniger Courage als in bestimmten Migrantenmilieus. Einem aktiven Fußballer verlangt sie zweifellos mehr Überwindung ab als einem emeritierten Kicker.

Doch dann versteigt sich der AfD-Vorsitzende zu der Aussage, er
hätte es gut gefunden, wenn Herr Hitzlsperger beispielsweise verbunden hätte mit dem Bekenntnis zu seiner Homosexualität eine … ein Bekenntnis dazu, dass Ehe und Familie für unsere Gesellschaft konstitutiv ist und dass es Verfallserscheinungen in Teilen unserer Gesellschaft gibt bezüglich dieser wesentlichen Keimzellen unserer Gesellschaft: Ehe und Familie.
(Transkription nach einem Filmausschnitt der Rede.)
Dass der Spitzenmann einer konservativen Partei für die traditionellen Werte Ehe und Familie eintritt, entspricht seiner Stellenbeschreibung und ist unabhängig davon vollkommen legitim. Es wäre Ausfluss einer übelwollenden, typisch linken Eristik-Strategie, von ihm zu fordern, dass er sich gleichzeitig von Homophobie distanzieren oder ein Loblied auf Partnerschaften jenseits der heterosexuellen Monogamie singen müsse.

Nicht besser ist es jedoch, zu verlangen, dass ein Coming-Out von einem Hinweis auf die Bedeutung von Ehe und Familie für unsere Gesellschaft zu begleiten sei. Es würde den Debatten in diesem Land zweifellos guttun, wenn nicht immer das volle Glaubensbekenntnis aufgesagt, nicht in jeder Äußerung das Große und Ganze gewürdigt und nicht jeder am Wegesrand prangende Gesslerhut gegrüßt werden müsste.

Falls Diskussionen nur noch dann statthaft sind, wenn zu jedem Satz ein mehrseitiger Beipackzettel mitgeliefert wird, können wir uns das ganze Miteinanderreden auch gleich sparen. Aber vermutlich ist ja genau das der Sinn der Übung. Schweigen ist eben doch Gold. Besonders das Schweigen der anderen.
Noricus


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