11. Mai 2014

Zerbrochene Spiegel. Ein Gastbeitrag von Fluminist.

Am Vorabend des Referendums über die staatliche Eigenständigkeit der "Volksrepubliken Donezk und Lugansk" fand ein anderes international beachtetes Abstimmspektakel statt, bei dem nationale Vorlieben und Ressentiments traditionell eine gewisse Rolle spielen, der Eurovision Song Contest. 
Unter den Künstlern, die mit Spannung das Ergebnis der Abstimmung erwarteten, saßen auch zwei blonde junge Mädchen. Insgesamt haben sie nicht besonders gut abgeschnitten, aber sie bekamen auch mal 10, mal 12 Punkte, eine Gelegenheit für die Kamera, rasch ihre Reaktion einzufangen. Diese Reaktion war zunächst der erwartete Jubel, doch über die strahlenden Gesichter fiel sofort ein herber Schatten der Bestürzung, denn in den Applaus mischten sich ganz deutlich Buhrufe, die man sonst bei dieser Veranstaltung selten hört. Hat hier ein besonders kritisches Publikum die Mittelmäßigkeit der Gesangsdarbietung der beiden Mädchen quittiert? Wohl kaum. Nein, die beiden hatten schlicht das Pech, das Reich des Bösen zu repräsentieren.
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Eine rasche Einteilung der Akteure internationalen Geschehens in Gute und Böse hilft dabei, sich Klarheit zu verschaffen und Ereignisse einzuordnen, die man nur durch die gefärbten Spiegelscherben parteilicher Berichterstattung sehen kann. Man erhält so ein konsistentes und, da unpassende Information eben Propaganda der Bösen ist, auch angesichts weiterer Entwicklungen beliebig fortsetzbares Narrativ, das in sich stimmig ist und als Handlungsgrundlage dienen kann. 
So etwa das des US State Departments, wonach (grob gesprochen) in der Ukraine nach der etwas turbulenten Machtübernahme der Übergangsregierung alles wunderbar glatt liefe, wenn nur nicht russische Agenten oder prorussische Aktivisten laufend Provokationen verübten wie beispielsweise die in Odessa, in deren Folge über 40 Regierungskritiker erschossen, verbrannt oder totgeschlagen wurden. 
So etwa auch das russische Narrativ, wonach der Umsturz in Kiew das Werk extremer ukrainischer Nationalisten und die separatistischen Bewegungen erst auf der Krim, jetzt - von Kiew militärisch bekämpft - in der Ostukraine eine berechtigte Reaktion der russischsprachigen Bevölkerung auf die Bedrohung einer Zwangsukrainisierung und eine ihren Interessen zuwiderlaufende Einbindung in die westlichen Bündnisse darstellt. 

Der Leser mag sich nach Maßgabe seiner Neigungen und Kenntnisse schon für eine dieser Versionen entschieden haben oder noch den Verdacht hegen, daß die Wahrheit irgendwo in der Mitte liegt. Leider ergeben zwei falsche Bilder noch kein richtiges.
Am 11. Mai hat nun das angekündigte Referendum über die Erklärung staatlicher Eigenständigkeit der Volksrepubliken Donezk und Lugansk stattgefunden, obwohl es von der ukrainischen Regierung als illegal bezeichnet und von den Ländern des Westens wie auch zuletzt von Rußland abgelehnt wurde.
Um es gleich vorweg zu sagen: das Ergebnis des Referendums wird in vielerlei Hinsicht fragwürdig sein und hat keine Bedeutung. Dennoch ist das Referendum ein wichtiger Moment in der politischen Entwicklung in der Ukraine.
Es fand unter den denkbar ungünstigsten Bedingungen statt, überschattet und begleitet von bürgerkriegsähnlichen Geschehnissen, deren Interpretation davon abhängt, ob man eine ukrainische oder russische Quelle zu Rate zieht.
Was können wir unabhängig von diesen Interpretationen mit einiger Sicherheit über das Referendum wissen?
Zunächst können wir uns ein relativ klares Bild davon verschaffen, worüber abgestimmt wird.
Es wurde nur eine einzige Frage gestellt:Unterstützen Sie den Akt über die staatliche Eigenständigkeit der Volksrepublik Donezk?
Es geht dabei um eine Erklärung mit folgendem Wortlaut:
ERKLÄRUNG DER STAATLICHEN EIGENSTÄNDIGKEIT DER VOLKSREPUBLIK DONEZKStadt Donezk, 7 APRIL 2014In der Ukraine wurde mit Unterstützung der legislativen, exekutiven und judikativen Gewalt durch unrechtmäßige paramilitärische Formationen ein Staatsstreich durchgeführt.Das neue Regime sucht fieberhaft Schutz und Unterstützung in Amerika und Europa, bei denen, die seit 2005 ohnehin de facto unser Land regieren. Die Staatsregierung unterschreibt Knechtschaftsverträge mit internationalen Organisationen. Das Land wird in die NATO gezogen.Die uralten brüderlichen Beziehungen mit den slawischen Völkern, den Völkern, die die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten bilden, wurden abgebrochen.Im Land wurde eine strenge Zensur eingeführt. Es wird eine antirussische Psychose aufgedrückt, aus dem russischen Brudervolk ein Feindbild gemacht. In der Ukraine etabliert sich mit Unterstützung des oligarchischen Kapitals eine nationalistische profaschistische Diktatur.Die Einwohner der Region Donezk und viele Abgeordnete aller Ebenen, denen die Zukunft unserer Erde und des auf ihr lebenden Volks, die Freundschaft und Zusammenarbeit mit den Ländern der Zollunion am Herzen liegen, lehnen die Zusammenarbeit mit dem verbrecherischen Regime kategorisch ab und erkennen seine unrechtmäßigen Beschlüsse nicht an.Mit dem Ausdruck tiefster Erschütterung und Sorge wegen des Entstehens von Spannungen und unüberwindlichen Widersprüchen zwischen den verschiedenen Teilen der Ukraine, gestützt auf die Willenserklärung des Volks der Region Donezk, in Bekräftigung der Priorität allgemeinmenschlicher Werte und der Anerkennung der allgemein akzeptierten Prinzipien und Normen des Völkerrechts,erklärt der Regionalrat der Region Donezk die Errichtung eines souveränen Staats - der VOLKSREPUBLIK DONEZK.Die VOLKSREPUBLIK DONEZK wird ihre Beziehungen zu den anderen Staaten im Einklang mit dem Völkerrecht, auf der Grundlage von Gleichberechtigung und Zusammenarbeit zum wechselseitigen Nutzen aufbauen. Das Territorium der VOLKSREPUBLIK DONEZK in den anerkannten Verwaltungsgrenzen ist unteilbar und unantastbar. Dieser Akt tritt im Moment seiner Bekräftigung in einem die ganze Region umfassenden Referendum in Kraft.
Es fällt hier folgendes auf.

1. Die Formulierung des Referendums unterscheidet sich in substantieller Weise von der des Krimreferendums. Dort wurden zwei Alternativen vorgelegt, entweder Verbleib in der Ukraine unter der Bedingung stärkerer Autonomie oder Beitritt zur russischen Föderation. Hier gibt es nur eine Frage, die mit Ja oder Nein zu beantworten ist. Das ist im Prinzip ehrlicher, denn es besteht die Möglichkeit, mit Nein für den Status Quo zu stimmen.

2. Die Wortwahl ist interessant: es ist eine Erklärung der staatlichen Eigenständigkeit, nicht der Unabhängigkeit. Diese könnte prinzipiell innerhalb des staatlichen Verbunds der Ukraine realisiert werden, etwa analog zur "Devolution" von Teilen staatlicher Gewalt im (noch) Vereinigten Königreich an Schottland, Wales und Nordirland. Was eine Ja-Stimme letztendlich bedeuten wird, ist daher nicht völlig klar. Es ist gut, sich das vor Augen zu halten, falls das Ergebnis des Referendums doch eines Tages als Grund z.B. für einen Beitritt zur russischen Föderation herhalten soll. Nicht jeder, der heute bona fide mit Ja gestimmt hat, wird dabei einen solchen drastischen Schritt gemeint haben.

3. Die Formulierung der Erklärung nimmt keinen direkten Bezug auf Rußland und sieht ganz wie das Werk lokalpatriotischer Idealisten aus. Selbst wenn dieser Eindruck täuschen und die Verfasser zynische russische Geheimdienstleute sein sollten, kann man davon ausgehen, daß die pathetischen Worte von slawischem Boden, angestammter Völkerfreundschaft und kapitalistischen Machenschaften, ja allein schon die nostalgische Selbstbezeichnung als "Volksrepublik" bei der Bevölkerung durch die Assoziation mit einer Zeit, in der die Nationalitätenfrage irrelevant war, auf positive Resonanz stößt­. Der Text gibt die russische Version des Narrativs wieder; wohlgemerkt zählt in der Demokratie nicht die Wahrheit, sondern was die Leute für Wahrheit halten.

Das Referendum zum gegenwärtigen Zeitpunkt wurde sogar von Putin am 7. Mai abgelehnt, mit der nicht unvernünftigen Begründung, daß die Umstände für die Durchführung extrem ungünstig sind. So war es auch: die Wahllokale waren improvisiert, der freie Zugang zu ihnen nicht überall gewährleistet. 
Daß es dennoch stattfand, ist bemerkenswert, sei es, daß wir hier eine raffinierte Finte Putins oder ein Zeichen autonomen Handelns seitens der Organisatoren sehen.

Bemerkenswert deshalb, weil es sich offensichtlich nicht um das Potemkinsche Dorf gehandelt hat, das man nach westlicher Lesart - russische Agenten stellen Separatisten dar, entwerfen eine Erklärung und organisieren an der Bevölkerung vorbei eine Schauabstimmung mit kaum überraschendem gefälschtem Resultat - hätte erwarten können. Trotz sehr realer Gefahr, in die Schußlinie von Regierungstruppen zu kommen, (z.B. in Krasnoarmejskdrängten die Leute in Scharen zu den (nach ukrainischem Standard durchsichtigen) Wahlurnen. 
Ob die Wahlbeteiligung so hoch ist wie in russischen Medien gemeldet (Lugansk über 80%, Donezk über 70%), sei mit Zweifel dahingestellt, die Unregelmäßigkeiten bei der Prüfung der Wahlregister, welche die BBC meldet, werden hier immer Unklarheit zurücklassen.

Es steht aber außer Frage, daß in der Bevölkerung ein Bedürfnis besteht, ihre Meinung zur Frage des Referendums zu äußern. Ein Referendum soll ein Spiegel der Meinung im Volke sein; hier ist es ein zerbrochener Spiegel, aber die Scherben zeigen dennoch ein Bild.
Auf der großen internationalen Bühne ist das Referendum eine Farce, aber die Leute, die daran teilnehmen, nehmen es ernst, und wir sollten ihnen die Achtung erweisen, sie auch ernstzunehmen. Sie sind der Beweis dafür, daß das Pflänzlein der Demokratie am Leben ist.
Die direkte praktische Bedeutung der Erklärung staatlicher Eigenständigkeit ist verschwindend, da voraussichtlich niemand diese anerkennen wird. Aber die bloße Tatsache, daß die Erklärung formuliert und ein Referendum mit wesentlicher Volksbeteiligung durchgeführt wurde, wie auch der bewaffnete Konflikt mit der Regierung bilden die Keimzelle eines Mythos, der den Kompromiß, der bisher die Grundlage der nationalen Einheit der Ukraine (und, am Ende mehr schlecht als recht, durch Janukowitsch personifiziert) war, in der absehbaren Zukunft unmöglich machen wird. 

Selbst unter der unwahrscheinlichen Voraussetzung, daß sich Rußland völlig aus der Geschichte heraushielte, wird die Ostukraine für die Regierung in Kiew ein Dauerproblem.
Zerbrochene Spiegel, heißt es, bringen sieben Jahre Unglück.


Fluminist

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