17. Dezember 2014

Doppelzitat des Tages: Differenzierung und Pauschalisierung


Tagesspiegel: Warum lehnen Sie den Begriff Unrechtsstaat ab? 
Gesine Schwan: Weil Unrechtsstaat ein diffuser Begriff ist. Er impliziert, dass alles unrecht war, was in diesem Staat geschehen ist. So weit würde ich im Hinblick auf die DDR nicht gehen.
(Gesine Schwan, Tagesspiegel, 17.05.2009)

Die USA sind ein Folterstaat. Wir wussten das. Jetzt können wir es nachlesen. Schwarz auf weiß.

(Jakob Augstein, Spiegel Online, 11.12.2014)

Kommentar:

Mancher Leser mag es mir als Einfallslosigkeit ankreiden, dass ich mich schon wieder an Augstein abarbeite. Aber es geht nicht um Augstein - auch nicht um Gesine Schwan, obwohl es auffällig ist, dass die SPD von einer potenziellen Bundespräsidentin weniger historisches Bewusstsein verlangt hat als vom Ministerpräsidenten von Thüringen.

Es geht um Differenzierungen und Pauschalisierungen, um Verharmlosungen und Diffamierungen.

Eines der mächtigsten Instrumente politischer Propaganda ist die Wahl zwischen Pauschalisierung und Differenzierung. Und der Erfolg zeigt sich dann, wenn niemand widerspricht.

Die zugrundeliegenden Fakten werden dabei zweitrangig. Einerseits kann man mit einer gelungenen Pauschalisierung einen vielschichtigen Sachverhalt monokausal erklären. So funktionieren Verschwörungstheorien.

Gleichzeitig kann man mit einer Differenzierung einen eindeutigen Sachverhalt so weit verkomplizieren, dass am Ende oben ist, was vorher unten war. Gesine Schwan führt das in der ZEIT folgendermaßen aus:
Entweder der DDR-Staat hat als »Unrechtsstaat« 40 Jahre lang jede Schule, jeden Kindergarten, jedes Bauamt geprägt und die Menschen jederzeit in sein Unrecht gleichsam hineingezogen. Dann verliert die gegenwärtig gängige und »politisch korrekte« Unterscheidung zwischen den Menschen und dem politischen System, unter dem sie leben mussten, jeden Sinn. Denn dann mussten sich alle kompromittieren. Oder man konzediert, dass es analog zu Fraenkels »Normenstaat« Bereiche im Staat der DDR gab, in denen es trotz des Damoklesschwerts der SED-Willkür faktisch, wenn auch nie gesichert, auch rechtlich zuging. In denen die Menschen sich auch um Rechtlichkeit bemühten. Um diese Unterscheidung geht es mir in der Abwehr der totalisierenden Deutung des »Unrechtsstaats«.(Gesine Schwan, DIE ZEIT 27,2009)
­Wenn man vor diesem Hintergrund Augsteins Pauschalzuschreibung des "Folterstaats" betrachtet, die er aufrecht erhält, obwohl er ausführlich über die Aufklärung der Folterereignisse durch den Staat selbst berichtet, muss man zu dem Schluss kommen: Der US-Staat hat als »Folterstaat« zwölf Jahre lang jede Schule, jeden Kindergarten, jedes Bauamt geprägt und die Menschen jederzeit in seine Folter gleichsam hineingezogen. 

Gerade im Hinblick auf die rund um die Thüringer Regierungsbildung wieder aufgeflammte Diskussion um den Unrechtsstaat DDR entfaltet Augsteins Diktum seine diffamierende Wirkung, und mit einem Widerspruch war und ist nicht zu rechnen. Der umgekehrte Fall existiert auch: Wenn Innenminister de Maizière nur ganz vorsichtig anmerkt, dass das Phänomen Pegida etwas komplizierter sein könnte - ohne aus dem Konsens der Verurteilung auszuscheren - wird ihm sofort Verharmlosung attestiert.

Denn wenn jemand versucht, ein pauschal abgehandeltes Thema zu differenzieren, z. B. den pauschalen Rassismus von Islamgegnern oder den pauschalen Bereicherungseffekt von Einwanderung, kann er mit Formulierungen rechnen wie "er spielt mit dem Feuer". Diese Themen sind Gegenstand einer moralischen Betrachtung, eine rationale Abwägung der Fakten lässt höchstens an der Klarheit des Standpunktes zweifeln. 

Bei anderen Themen dagegen ist eine pauschale Meinung ein Garant dafür, aus der Debatte ausgeschlossen zu werden, denn dort wird zwingend Äquidistanz gefordert. Gibt jemand z.B. eine Sympathiebekundung für Israel ab, ohne gleichzeitig einen Ausdruck des Bedauerns für das geschundene palästinensische Volk zu äußern, gilt er nicht mehr als satisfaktionsfähig. Selbst ursprünglich als Grundpfeiler unseres Landes definierte wie die freie Marktwirtschaft oder die Westbindung unterliegen der Pflicht zur Differenzierung.

Wer entscheidet, wo differenziert und wo pauschalisiert wird, beherrscht die Debatte - und erstickt sie gleichzeitig. In den Medien ist man sich weitgehend einig, welche Themen differenziert zu betrachten sind und welche pauschal. 

Dieser Konsens ist tödlich für eine pluralistische Gesellschaft.   
Meister Petz


© Meister Petz. Titelvignetten: Prof. Gesine Schwan (Präsidentin der Europa Universität Viadrina). Foto: Stephan Röhl (CC BY-SA 2.0); Jakob Augstein, Der Freitag. Foto: xtranews.de (CC BY 2.0). Für Kommentare bitte hier klicken.