16. April 2015

Das Stigma

Und wieder einmal eine neue Runde mit den altbekannten Stellungnahmen.
Auf der einen Seite diesmal der Papst himself und das Europäische Parlament. Ein Papst, der aus seiner theologischen Stellung offenbar schließt, er wäre auch in Wirtschaftsfragen, Pädagogik und nun Geschichte und Justiz unfehlbar. Und ein EP, das sonst dem Beitritt der Türkei entgegenfiebert - aber doch der Versuchung erliegt, seinen eigenen Popularitätsproblemen mit großen Vorwürfen nach außen zu begegnen.
Auf der anderen Seite gewohnt uneinsichtig und mit hysterischen Gegenvorwürfen konternd die türkische Regierung. Die auch nach Jahrzehnten nicht einsehen will, daß man das Armenier-Thema nicht mit blind wiederholten Dementis aus der Welt schaffen wird.

Dabei ist die Sachlage nicht wirklich umstritten. Es gab 1915 systematische Massenmorde durch türkische Truppen und Zivilisten an Armeniern und anderen Minderheiten. Die Massaker und die unmenschliche Behandlung während der "Umsiedlung" forderten viele hundertausend Menschenleben. Das Alles wird grundsätzlich von der türkischen Regierung auch anerkannt und als massive Menschenrechtsverletzung eingestuft. Es hat auch offizielle Entschuldigungen gegeben und Versuche, sich mit den Armeniern auszusöhnen.
Aber was die Türkei nicht akzeptiert, und was diesen wütenden Protest verursacht, das ist das Etikett "Völkermord", auf dem europäische Politiker bei ihrer Einschätzung der Ereignisse von 1915 bestehen.
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Das ist schon einmal deswegen merkwürdig, weil es einen solchen Tatbestand 1915 noch überhaupt nicht gab. Im wesentlichen ist der Begriff "Völkermord" erst in den 1940er Jahren aufgekommen und 1947 von der UNO definiert worden. Und gemeint war im wesentlichen die von den Nazis versuchte Vernichtung des jüdischen Volks. Dieses Verbrechen sollte speziell gebrandmarkt und eine Wiederholung natürlich verhindert werden.

Ohne diesen historischen Kontext ist der Begriff nicht zu verstehen. Und außerhalb dieses speziellen Kontexts ist er eigentlich auch nicht wirklich sinnvoll.
Die deutsche Wikipedia behauptet vollmundig: " ... der Völkermord ist dasjenige völkerstrafrechtliche Verbrechen mit der schärfsten und anerkanntesten Definition". In der Praxis ist von einer "scharfen Definition" aber wenig zu sehen. Sondern im Gegenteil zeigt nicht nur das türkische Beispiel, daß eine Beurteilung extrem schwer ist.

Der Knackpunkt dabei ist die "Absicht" der Vernichtung eines Volks. Es reicht also nicht, massenhaft Leute umzubringen. Sondern es muß ein Plan nachgewiesen werden, mit diesen Massenmorden auch das Volk als solches (bzw. einen wesentlichen Teil) auszulöschen.

Genau da wird es beim Beispiel von 1915 schwierig: Es sind Äußerungen von diversen türkischen Militärs bzw. Politikern bekannt, die eine geplante Vernichtung plausibel machen. Es ist wahrscheinlich, aber eben nicht nachgewiesen, daß das auch beschlossene Regierungslinie war. Daß die in der Westtürkei lebenden Armenier weitgehend verschont blieben, spricht eher gegen die These vom zentral geplanten Völkermord.

Auch bei anderen historisch belegten Greueln ist die Einstufung schwierig. Wenn z. B. die Massaker von Sabra und Shatila von einer UN-Mehrheit als Völkermord eingestuft werden, dann sagt das deutlich mehr über die antisemitische Grundeinstellung dieser Organisation als über die Präzision der Völkermord-Definition.

Es ist schwer verständlich, warum von tausenden an historischen Völkermorden vor der Definition von 1947 nur der eine einzige Fall Gegenstand heutiger politischer Gremien ist.
Während umgekehrt viele Massenmorde nach 1947 weder von der UNO, noch dem Papst oder dem Europa-Parlament als Völkermord gegeißelt wurden.

Und vor allem: Was soll eigentlich an Menschenrechtsverletzungen und an Massakern besser sein nur weil sie in der Absicht erfolgen, wenigstens einen Teil des betroffenen Volks überleben zu lassen?
Sind die grauenhaften Verbrechen von Mao, der Roten Kmher oder in Nordkorea weniger schlimm, weil ihnen nicht auch noch das Etikett "Völkermord" aufgeklebt wird?

Kein potentieller Völkermörder läßt sich von dieser zusätzlichen Verdammung seiner Verbrechen von seinen Taten abhalten. Es ist im UN-Beschluß ja auch nicht vorgesehen daß ein drohender Völkermord Rechtfertigung wäre, die geheiligte Souveränität der Staaten einzuschränken. Und noch weniger gibt es die Bereitschaft, aktiv dagegen vorzugehen.
Wenn es doch einmal geschieht, wie beim NATO-Eingreifen in Jugoslawien, wird das in weiten Kreisen als Völkerrechtsbruch kritisiert. Zu den Völkermorden im Sudan oder in Syrien gibt es keine UN-Kampfeinsätze.

In der Realität der internationalen Politik ist "Völkermord" eigentlich nur ein Instrument. Ein Stigma, daß ziemlich willkürlich manchen Regierungen aufgeklebt wird. Während viel massivere Verbrechen anderswo mit Nachsicht behandelt werden - so ein paar dunkle Punkte in seiner Geschichte hat halt jeder Staat.

Vor diesem Hintergrund ist der türkische Widerstand gegen die Beschlüsse in Europa verständlich. In der Sache wird der Vorwurf wahrscheinlich richtig sein. Aber es ist unsinnig und kontraproduktiv, aus der Vielzahl der historischen Fälle gezielt nur diesen einen zu nehmen, ahistorisch nach modernen Maßstäben zu bewerten und damit die Türkei mit der Höchststrafe "so schlimm wie Hitler" zu belegen.

Besser wäre es - aber leider völlig unwahrscheinlich - auf den Begriff "Völkermord" im internationalen Recht und vor allem in der Rückbetrachtung zu verzichten. Aber dafür konsequenter gegen die Massenmörder von heute vorzugehen.

R.A.

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