6. August 2015

Das nackte Gute

Wenn mich gestern jemand gefragt hätte, was ich an diesem Tag vor fünf Jahren erlebt habe, hätte ich passen müssen. Da aber die Wikipedia-Startseite eine Rubrik "Jubiläen" hat, habe ich mich zumindest daran erinnert, was ich exakt 69 Tage später erlebt habe, und es war eine schöne Erinnerung.

Ich habe morgens vor dem Fernseher gesessen und mit Tränen der Rührung und Freude die Ausfahrt der 33 chilenischen Bergleute aus dem Schacht in San José verfolgt, die zuvor drei Monate dort gefangen waren. Komplett, auch nach der zehnten Ausfahrt habe ich mir zu keinem Zeitpunkt gedacht, "jetzt habe ich es gesehen, jetzt kann ich wegschalten".

Warum hat mich das so fasziniert? Ich erkläre es mir damit, dass diese Bilder in ihrer unmittelbaren Wucht etwas transportieren, das ich mangels eines besseren Begriffes "das nackte Gute" nennen möchte. Religiöse Menschen könnten es auch als Gotteserfahrung bezeichnen.

Da sieht man, wie diese Menschen abgekämpft, aber voll Hoffnung in den Gesichtern einem sicheren, grausamen Tod entrinnen und ihren erleichterten Liebsten in die Arme fallen; mit ihnen die Solidarität mindestens einer ganzen Nation. Der enorme finanzielle Aufwand der Erschließung des Schachtes und der selbstlose Einsatz der Helfer, die ihr eigenes Leben riskiert haben, zeigt den unverhandelbaren Wert jeder einzelnen Person. Wahrscheinlich das Ermutigendste: Dass auch nach drei Monaten keiner aufgegeben hat.

And that's it! Dieses Ereignis war für mich so bedingungslos richtig, wahr, gut und schön, dass es einfach für sich steht.

Ich würde mir mehr solche Momente wünschen. Und ich glaube fest daran, dass es sie gibt, aber dass es extrem schwer ist, sie zu erkennen und zu transportieren, ohne relativierenden Kommentar, ohne Suche nach dem Haar in der Suppe.

Was die Rettung in San José angeht, so wurde das ganze Thema im Nachhinein so zerredet (die Bergleute sind traumatisiert, arbeitslos, die Bergwerksgesellschaft hält die Entschädigung zurück usw.), dass das nackte Gute nicht mehr zu erkennen ist. Noch extremer bei der Rettung des Höhlenforschers in den Berchtesgadener Alpen. Der hatte noch nicht einen einzigen Sonnenstrahl gesehen, als schon debattiert wurde, ob er eigentlich versichert ist, und dass es ja ganz schön egoistisch sei, die Kosten seiner Rettung der Allgemeinheit aufzubürden. "Ja klar muss man ihm helfen, aber es muss doch erlaubt sein, zu fragen...".

Diesen Umgang mit guten Nachrichten sind wir in der Postmoderne gewöhnt, und er führt dazu, dass wir das nackte Gute rundheraus ablehnen. Wir dekonstruieren es als Heile-Welt-Illusion, ja geradezu als naive Dummheit, uns der für uns unverrückbar feststehenden Tatsache zu verweigern, dass das dicke Ende schon noch kommt. Gerade als politischer Blogger muss man da zuvorderst auf den Balken im eigenen Auge achten, und ich kann es ja nicht bestreiten, dass es auch bei mir diese Wucht gebraucht hat, um es einmal zu erfassen.

Wenn ich mich jetzt daran erinnere, hoffe ich, eines daraus gelernt zu haben: Ich muss es auch sehen wollen. 


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Meister Petz

© Meister Petz. Titelvignette bereitgestellt von Hugo Infante/Government of Chile. Für Kommentare bitte hier klicken.