1. Oktober 2015

Die Nationaltracht

Die wirklich völkerverbindende Wirkung eines Erasmus-Aufenthalts entfaltet sich erst, nachdem die Beteiligten ihr Auslandssemester hinter sich haben. Denn dann kommen die gegenseitigen Besuche der aus allen möglichen europäischen Ländern stammenden Studenten. Und die wollen sich natürlich sowohl amüsieren wie auch das jeweilige andere Land kennenlernen.

Das heißt konkret: Die Belgier, Schweden, Engländer usw., die meine Tochter bei ihrem Frankreich-Semester kennengelernt hat, sagen sich zu einem Oktoberfestbesuch an. Ersatzweise, weil in München kein Platz mehr ist, werden die Cannstadter Wasen angepeilt.
Und um sich ordentlich aufs Volksfest vorzubereiten, kauft sie sich nun erst einmal ein Dirndl.
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Da stutzt der Vater: In ganz Europa herumreisen - aber so wenig Ahnung von Geographie? Stuttgart liegt nun einmal definitiv nicht in Bayern. Ein Dirndl paßt gewiß zum Oktoberfest, aber bestimmt nicht zum größten schwäbischen Fest.

Aber, wie das halt zur Jobbeschreibung gehört, Vater ist natürlich nicht up-to-date.
Bayrische Tracht mit Dirndl und Lederhose gehört inzwischen zur Standardausstattung bei den Besuchern der Cannstadter Vasen. Wie auch bei vielen anderen Volksfesten in Deutschland.
Früher konnte man sich noch über Amis oder Japaner lustig machen wenn sie glaubten, alle Deutschen würden wie die Bayern rumlaufen. Heute haben sie recht.

Die Anregung, doch eine heimische Tracht anzuziehen, wird nach einem Blick verworfen. Eine kurze Recherche macht verständlich, warum auch die schwäbische Variante bei den Feiernden in Cannstadt nicht populär ist.

Rückblende: Hermannstadt in Siebenbürgen ist stolz auf seine deutsche Vergangenheit. Obwohl nur noch 5% der Bewohner Deutsche sind hat es ein tüchtiger Bürgermeister geschafft, zahlreichen deutschen Firmen soviel Heimatgefühl zu vermitteln, daß sie einen Produktionsbetrieb vor Ort aufgemacht haben. Hermannstadt ist dadurch DIE Boomstadt Rumäniens.

Wir essen in einem Spezialitätenrestaurant: Original Siebenbürger Gerichte, die Bedienungen tragen Siebenbürger Trachten und haben sehr ordentlich deutsch gelernt. Wobei - die Siebenbürger Trachten sehen mir merkwürdig vertraut aus. Und auf Nachfrage beichtet der Wirt: Ja, anfangs hätte man die getragen, aber die wären extrem unpraktisch gewesen. Und deswegen hätte man auf die standard-alpenländischen Gastronomie-Dirndl zurückgegriffen.

Das ist wohl der Knackpunkt, auch für die Volksfeste: Die Original-Trachten - egal welcher Region - sind eigentlich nur dazu geeignet, mit viel Schmuck beim Kirchgang zu paradieren. Mit enorm geplusterten Röcken, schweren Medaillons um den Hals und vor allem aufwendigem Kopfschmuck. Also völlig ungeeignet um darin zu arbeiten oder zwanglos zu feiern.

Und deswegen ist auch die "bayrische Tracht" kein Original, sondern eine relativ neue Entwicklung.
Und insbesondere das beliebte Dirndl ein für den praktischen Gebrauch verändertes Kunstprodukt: "Das Dirndl wurde „entkatholisiert“, die geschlossenen Kragen entfernt, die Arme nicht mehr bedeckt und damit modernisiert sowie erotisiert. Pesendorfer kreierte die geschnürte und geknöpfte Taille, die bis heute stilbildend für zeitgenössische Dirndlformen ist."
Pesendorfer, das war die "Reichsbeauftragte für Trachtenarbeit". Und was man auf den Volksfesten sieht, ist die "erneuterte Tracht" im Sinne der NSdAP. Was hätte sich die Reichsbeauftragte gefreut, daß sich ihre Tracht nun deutschlandweit etabliert ...

Aber egal: Die neue deutsche Nationaltracht wird ja auch begeistert von ausländischen Touristen und Einwanderern getragen.
Wenn der Trend so weitergeht, dann werden von der Ostsee bis zum Rhein die Kinder der Leute, die derzeit massiv nach Deutschland einwandern, in Dirndl und Lederhose zum Feiern gehen.

R.A.

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