25. Februar 2016

Darf man heute eigentlich noch optimistisch sein? Gedanken zu Zettels drittem Todestag


„Es ist schlimm. Alles ist schlimm und wird immer schlimmer.“ „Schlimm sagst du? es ist eine Katastrophe, ein Desaster! Alles geht den Bach runter, da machst du nix mehr dran. Wir sind alle verraten und verkauft. Komplett im Eimer."

So und in dieser Art klingt es allenthalben. Im Internet. in den Nachrichten. In den Diskussionsrunden und wohl auch an vielen deutschen Küchentischen. Stimmung und Diskussionskultur sind gleichermaßen an einer Art Tiefpunkt angekommen, und das unabhängig von der politischen Richtung, die vertreten wird. Natürlich gibt es immer noch die Problemignorierer und Gesundbeter, etwa im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Aber dazwischen scheint es nicht mehr viel zu geben. Lediglich die Schuldfrage an den "Verhältnissen" wird, je nach politischem Standpunkt, herumgereicht: die Migranten, die Bundesregierung oder die Nazis. Oder -auch sehr beliebt- alle zusammen. Was ist mit uns Deutschen eigentlich los?
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Lassen Sie mich den Vorhang für einen kurzen Moment schließen und in den USA der siebziger und frühen achtziger Jahre wieder hinaufziehen. 
Damals waren die Vereinigten Staaten aufgrund des Vietnamkrieges ein zutiefst gespaltenes (und später gekränktes und verunsichertes) Land. Die Ölkrise schüttelte die Wirtschaft; es gab Massenarbeitslosigkeit, und das bei einem nur rudimentär ausgeprägten Sozialstaat; die sozialen Härten schlugen nahezu ungefiltert auf die Menschen durch. Die soziale Ungleichheit war enorm. In den Städten gab es erhebliche Ghettobildungen, neudeutsch Parallelgesellschaften, etwa von Afroamerikanern oder Latinos. Kriminalitätsraten, einschließlich der von Tötungsdelikten, waren ausgesprochen hoch. Die große Heroinwelle zog tiefe Gräben der Verelendung und Kriminalität durch ganze Stadtteile.  Im New Yorker Central Park war die Wahrscheinlichkeit, abends überfallen zu werden jahrelang größer als die Wahrscheinlichkeit ungeschoren durch den Park zu kommen. Und die AIDS-Epidemie klopfte schließlich an die Tür.

Die USA sind an diesen Verhältnissen und Prüfungen nicht zerbrochen, nicht im geringsten. Als es mit der Kriminalität endgültig zu bunt wurde, kam der New Yorker Bürgermeister Giuliani und hat eine Nulltoleranzpolitik durchgesetzt, die in großen Teilen des Landes Schule gemacht hat. Aber wie schlimm musste es erst kommen, bis politisch auf solch konsequente Weise reagiert worden ist? Das ist nur ein Beispiel, doch was man daraus wohl lernen kann: wenn es schlimm genug kommt, können Länder, können Bevölkerungen, und ja, kann auch Politik in demokratischen Systemen zur Erneuerung, zum Kurswechsel, fähig sein.

Zettel, der Begründer dieses Blogs, der heute vor drei Jahren verstorben ist, war ein großer und wortgewaltiger liberalkonservativer Kritiker aktueller politischer Verhältnisse und Entscheidungen.  Er hat aber, bis auf seltene und kurze Ausnahmen, nie den Glauben an dieses Land, seine Menschen, den demokratischen Rechtsstaat, und an die grundsätzliche Fähigkeit zur Selbsterneuerung verloren. Seine Kritik war, bei aller Schärfe der Formulierung, stets auf einen grundsätzlichen Optimismus gegründet. Ich denke, das ist, wenn mir das große Wort erlaubt ist, Zettels Vermächtnis. 

Ich habe hier in den letzten zwei Jahren kaum noch geschrieben, weil mir der Optimismus zunehmend abhanden gekommen ist. Genau genommen habe ich aufgehört, an die Zukunft dieses Landes zu glauben. Und so gesehen war es auch richtig, hier nichts mehr beizutragen. Das Netz ist bereits voll von Äußerungen von Endzeitpropheten, da bedarf es keiner weiteren zweifelhaften Beiträge von mir; insbesondere nicht hier, auf Zettels Raum. Inzwischen glaube ich jedoch, daß dieser Pessimismus sowohl inhaltlich als auch als "Haltung" ein Fehler ist. 

Was mich in der Vergangenheit an grüner Politik und Argumentation oft gestört, ja zuweilen in den Wahnsinn getrieben hat, ist deren Neigung, gegenwärtige Problemlagen einfach linear in die Zukunft zu projizieren und dabei die Rechnung ohne die technische Entwicklung, ohne den Erfindergeist des Menschen, seine Anpassungs- und Problemlösefähigkeit und ohne die Möglichkeit glücklicher Fügungen zu machen und dabei einen zutiefst misanthropischen Pessimismus verbreitet haben. „Lagert den Atommüll verdammt nochmal oberirdisch und  wartet, bis er, wie fast alles was Menschen in der Geschichte als Müll verbuddelt haben, irgendwann als Rohstoff ohnehin wieder gebraucht werden wird“ habe ich dann beispielsweise gedacht. Bei den albernen Prognosen des Club of Rome zum „Peak Oil“ entsprechendes.  Niemand macht uns Deutschen mit Blick auf Pessimismus und düstere Prognosen etwas vor. 

Möglicherweise haben wir Deutschen (und eben nicht nur Linke oder Grüne aus der Perspektive des liberalen und konservativen Bürgertums) einen nicht nur leichten Hang zur Hysterie, zur emotionalen Überreaktion. Nun bin ich  selbst eine ziemlich deutsche Kartoffel. Könnte es sein, daß mir in meinem inzwischen weit gediehenen Pessimismus ebenjene „deutsche“ Neigung zur emotionalen Überreaktion selbst auf die Füße gefallen ist? Die Dicke singt nicht. Manches spricht dafür, dass Österreich, zusammen mit den Osteuropäern, für Deutschland, dessen Regierung gerade zweifellos außer Betrieb ist, gerade die Flüchtlingskrise löst.  Und seit mir mal von einem Ökonomen das Konzept der Produktivität erklärt worden ist, ist auch die demographische Katastrophe vorläufig abgesagt, zumindest in der von mir jahrelang vermuteten Härte (und Sicherheit ihres Eintretens). Natürlich sind die Herausforderungen, denen sich dieses Land gegenüber sieht, immens. Aber man sollte diese Probleme nicht einfach linear in die Zukunft projizieren. 

Meine größte Sorge ist inzwischen nicht mehr die Flüchtlingskrise oder die demographische Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die sozialen Sicherungssysteme; nicht Brüsseler Bürokratismus, nicht die Energiewende und auch nicht der Euro. Meine größte Sorge ist, dass die Menschen in diesem Land den Glauben an ihr Land und an ihre eigene Zukunft verlieren, den Glauben an sich selbst, an ihre Fähigkeit zu Erneuerung und Veränderung; an eine lebenswerte Zukunft. 

Etwas, das den Amerikanern, auch in den tiefsten Krisen ihrer Geschichte, im Traum nicht eingefallen wäre.


Andreas Döding


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