19. November 2016

Postfaktisch - die gefühlte Realität

Das Oxford Dictionary hat die Formulierung „post-truth" zum internationalen Wort des Jahres gekürt, weil es in jüngster Zeit erfunden und immer mehr gebraucht wurde, um die Verwechslung der Realität mit gefühlten Tatsachen zu bezeichnen. Meinungen, die durch Einbildung oder durch die Werbung oder durch politische Propaganda verbreitet wurden, stammen gar nicht aus der Erfahrung der Wirklichkeit, sondern waren Lügen und werden z. T. hartnäckig gegen diese geglaubt, z. B. Verschwörungstheorien. Gefühle verändern also die Fakten oder erschaffen Unwahrheiten. Mit dieser verspäteten Einsicht in die Alltagswelten der Unter- und Mittelschicht erklärt man jetzt auch die unzutreffenden Vorhersagen des Wahlsiegers in den USA. Die Klugen täuschten sich.

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Neu ist nur das Diskutieren darüber, die Sache der Ersetzung der Vernunft durch Emotionen ist uralt.

Ich täusche mich, also existiere ich. So hat Augustinus in seinem Gottesstaat (XI, 26) argumentiert: „Selbst wenn ich mich täusche, bin ich. Denn wer nicht ist, kann sich auch nicht täuschen. Und demnach bin ich, wenn ich mich täusche. Weil ich also bin, wenn ich mich täusche, wie sollte ich mich über mein Sein täuschen, da es doch gewiss ist, dass ich bin, gerade wenn ich mich täusche?"

„Si enim fallor, sum. Nam qui non est, utique nec falli potest. Ac per hoc sum, si fallor. Quia ergo sum, si fallor, quomodo esse me fallor, quando certum est me esse, si fallor?“

Sofern man die Selbsttäuschung zugibt, hätte man wenigstens einen Beweis, dass unser Planet existiert und wir nicht nur ein Traum sind. Wenn dieser Beweis nicht auch nur eine postfaktische Philosophie ist.

Sehen wir genauer hin.

In Platons Höhlengleichnis täuscht man sich insofern, als man nur die Schatten der Dinge sieht, die vorbei getragen werden. Wo es Schatten gibt, gibt es auch die Dinge, nur sehen wir diese nicht direkt. Die Dinge aber, die jetzt im Zeitalter nach der Wahrheit (post-truth era) durchschaut und kritisiert werden, sind oft nicht einmal Abbilder im Schatten, sondern können reine Erfindungen, nur Träume sein, sogar Verkehrung der Wirklichkeit.

Ist die Digitalisierung der Welt (Daten statt Fakten) daran schuld, dass wir uns mehr täuschen, falls wir uns denn mehr täuschen als je? Dann wäre kaum etwas zu ändern.

Sinnvoll scheint mir, die Sache mit einem parallelen Trend zu vergleichen. In der Philosophie lehren die meisten längst: Es gibt nur einen Pluralismus von Wahrheiten und diese sind alle nur subjektive. Nachzügelnd folgen dem die Religionsphilosophen und Theologen. In den letzten Jahrzehnten hat sich sogar in der katholischen Lehre diese „Religionspluralistische Theorie" so durchgesetzt, dass man bald wie zu frühkirchlicher Zeit wird sagen können: Die Welt schlug die Augen auf und siehe, sie war häretisch geworden.

Wird der Verzicht auf den Wahrheitsbesitz nicht auch als Fortschritt „gefühlt"? Bequemer ist er als die alte Sicht allemal. Wenn unser Christentum, auch das ‚reine Evangelium’ der Reformation, nur eine durch Linsen verzerrte, gefärbte, und zudem grundsätzlich nur bruchstückhaft wahrnehmbare schwache Wahrheit ist, „scheint" der Religionen-Dialog friedlicher möglich. Aber was ist geschehen? Der Mensch wäre grundsätzlich verarmt: Er konnte und kann nie, was er fand und lebte, Wahrheit nennen.

Die Tiere müssen auch damit leben.

Manche glauben es nicht und statten sie in ihrem quasireligiösen Mitfühlen aus mit Denken, Fühlen und wohl auch mit einer je eigenen subjektiven Tierreligion.

Ich denke, dass die alte Pilatusfrage, was Wahrheit sei, nur durch eine andere Frage zu beantworten ist: wie Pilatus lebte und wie Jesus lebte und wie ich.

Huch, auch nur eine gefühlte Wahrheit (?) von

Ludwig Weimer

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