23. Dezember 2016

Politische Paralleluniversen

Man kann den sogenannten Rechtspopulisten viel vorwerfen. Aber wenigstens eine positive Entwicklung muss man ihnen zugutehalten. Ihre Erfolge haben nämlich dafür gesorgt, dass die bisher immer so grämlichen Linken, bei denen es stets fünf vor zwölf schlug, die von sozialen Scheren phantasierten und allenthalben Anfänge sahen, denen es zu wehren galt, plötzlich eine schon fast unglaubwürdig gute Stimmung an den Tag legen.
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"Wie Pessimisten Deutschland in die Krise treiben", lautet die Überschrift eines auf Spiegel-Online veröffentlichten Kommentars des promovierten Volkswirtes und Professors für wirtschaftspolitischen Journalismus Henrik Müller. Wäre im gelobten Merkelland eigentlich alles in Butter, wenn nicht die Miesmacher immer alles schlechtredeten?

Müller nennt drei Faktoren, die seiner Ansicht nach für den zwischen Flensburg und Freilassing grassierenden Pessimismus verantwortlich sind: "Demografie", "Verteilungsfragen" und "Wahrnehmungsverzerrungen". Die Älteren, so der Nationalökonom, betrachteten "Globalisierung, Zuwanderung, technologischen Wandel oder europäische Integration" mit Skepsis. Sie stellten "Verteilungsfragen in den Mittelpunkt". Ist dem wirklich so?

Die beiden Volksparteien vergessen nicht, wer ihre treuesten Anhänger sind. Die Mütterrente und die Rente mit 63 zeugen davon. Als Senior in diesem Land braucht man wirklich nicht die AfD zu wählen, um Verteilungsfragen in seinem Sinne gelöst zu wissen. Und die These, dass Menschen, welche die goldene Zeit der europäischen Integration bewusst erlebt haben (verkörpert durch die deutsch-französischen Paare Giscard-Schmidt und Kohl-Mitterrand), euroskeptischer sein sollen als die Jugend, die nur noch die Krise kennt, müsste nicht nur behauptet, sondern auch belegt werden.

Sonst fällt Müller zu den Verteilungsfragen nur das ein, was man in den letzten Jahren und Dekaden allzu oft gehört hat:
In vielen westlichen Ländern mussten seit Mitte der Nullerjahre große Teile der Bevölkerungen stagnierende oder sinkende Einkommen hinnehmen [...] Staatliche Umverteilung hat der Einkommenspolarisierung [...] in vielen Ländern erstaunlich effektiv entgegengewirkt.
Die böse Schere und der gute Sozialismus, der ihre Klingen wieder schließt: Diese Mär war in diesem Blog oft genug Thema (siehe zum Beispiel hier oder hier oder hier). Was die Bürger dieses Landes bräuchten, wäre mehr Netto vom Brutto. Doch Abgabensenkungen trotz sprudelnder Steuereinnahmen in Erwägung zu ziehen erscheint in diesen Zeiten schon beinahe frivol. Deutschland benötigt nicht mehr Umverteilung, sondern weniger Fiskalgier.

Und was ist mit den Wahrnehmungsverzerrungen? Das Jahr 2016 begann mit der Kölner Silvesternacht und endet mit dem Attentat auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin. Dazwischen lagen weitere Terroranschläge und die selbstzweckhafte Gewaltentfaltung der Berliner U-Bahn-Tretattacke. Auch wenn dies für Liberale eine zwiespältige Angelegenheit ist: Aber die innere Sicherheit wird einer der entscheidenden Punkte der Bundestagswahl 2017 sein. Für die Freisinnigen könnte es eine dankbare Aufgabe sein, ein Konzept zu erstellen, dass das berechtigte Verlangen nach Kriminalitätsbekämpfung in Einklang mit der Bewahrung der Grundrechte bringt.

Im Zusammenhang mit der Thematik der Bedrohung durch Terror und anderweitige Straftaten wird Merkels Politik der offenen Grenzen diskutiert werden. Es ist mittlerweile evident, dass nicht nur Personen, die aus menschlich nachvollziehbaren, wenn auch nicht immer für die Gewährung eines Aufenthaltsrechts beachtlichen Gründen zu uns gekommen sind, sondern auch Zeitgenossen mit finsteren Absichten die temporäre Aussetzung der Kontrolle der deutschen Staatsgewalt über die Einreise in das bundesrepublikanische Staatsgebiet für ihre Zwecke genutzt haben.

Dieser eigentlich naheliegende Umstand war jedoch zunächst tabu. Vielmehr wurde das Totschlagargument der rechten Hetze, wie der terminus technicus wohl lautet, nur allzu gern ausgepackt, wenn jemand zu bedenken gab, dass es Wahnsinn sei, wenn ein Staat nicht mehr wisse, wer auf seinem Territorium ein- und ausgehe. Die Heuchelei ist nach wie vor unerträglich: Aus dem linken Spektrum wurde zunächst in selbstgefälliger Empörung gegen die zur "Sammelabschiebung" hinaufgejazzte Umsetzung der vollziehbaren Ausreisepflicht von 34 Afghanen protestiert. Doch nach dem Anschlag in Berlin fragen sich plötzlich alle, weshalb der (mittlerweile bei einer Polizeikontrolle in Mailand erschossene) Tatverdächtige nicht schon längst aus Deutschland in seine tunesische Heimat zurückgeführt wurde, so als ob in diesem Verwaltungsbereich die Rechtsdurchsetzung nicht schon seit Jahren defizitär wäre. Dem WELT-Redakteur Klaus Geiger ist beizupflichten, wenn er in einem Kommentar vorbringt, dass es
nicht die Stärke der Rechtspopulisten [ist], die den Rechtsstaat gefährdet. Es ist die Schwäche des Rechtsstaates in Deutschland und Europa, die den Populisten jene Flanke bietet, in die diese so spielend leicht hineinstoßen können.
Die im Herbst 2015 zu verzeichnende Migrationswelle lässt sich auch nicht von einem anderen besorgniserregenden Thema trennen: der multiplen Krise der Europäischen Union. An die Dauerdiagnosen des griechischen Patienten hat man sich fast schon gewöhnt. Doch nun müssen auch in Italien, der drittgrößten Volkswirtschaft der Europäischen Union, die too big to fail and too big to be saved (zu groß, um unterzugehen, und zu groß, um gerettet zu werden) ist, Banken unterstützt werden. Neben diesen Nord-Süd-Konflikt ist in diesem Jahr das Brexit-Referendum sowie eine Risslinie zwischen Deutschland und den osteuropäischen Staaten getreten, die nicht einsahen, dass sie die Folgen von Merkels Publicity-Stunt eines Brautgeschenkes an die Grünen mittragen sollten.
Das liebe Heil'ge Röm'sche Reich,
Wie hält's nur noch zusammen?
wäre man versucht, mit dem Frosch in Auerbachs Keller mitzusingen.

Henrik Müller und der Verfasser dieser Zeilen leben offenbar in politischen Paralleluniversen. Wäre alles gut, wenn es keine Rechtspopulisten gäbe? Oder gäbe es keine Rechtspopulisten, wenn alles gut wäre?

Noricus

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