10. Januar 2017

Der Aufstand um den Anstand und das Hauptgebot der Fairness

Der Verfasser dieser Zeilen hat das Wort "Anstand" in den vergangenen Monaten sicher häufiger im öffentlichen Diskurs gehört und gelesen als im Vierteljahrhundert zuvor. Oft begegnete die Vokabel in einem Kontext mit dem Wahlkampf Donald Trumps, obwohl seine Konkurrentin auch den einen oder anderen Ordnungsruf verdient hätte. Bei den Umkleidekabinenparolen des designierten US-Präsidenten stellte sich das aparte Ergebnis ein, dass Altkonservative (die in den Medien freilich so gut wie nicht repräsentiert sind) und das linksliberale Mehrheitsmilieu (das in der Presse überproportional vertreten ist) in der Ablehnung dieser Aussagen übereinstimmen dürften, wenn auch mit unterschiedlicher Begründung.
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Noch kurioser als diese rezente Besinnung auf die Etikette mag anmuten, dass auch das Jungerwachsenenmagazin einer großen deutschen Wochenzeitung für eine Rückkehr des Anstandes eintritt, wobei freilich einiges, was dort unter die Dichotomie "okay/nicht okay" subsumiert wird, eine Frage weniger des Anstandes, sondern vielmehr eines gesetzestreuen Betragens darstellt. Es dürfte jedermann einleuchten, dass es nicht nur unanständig, sondern vielmehr hochgradig kriminell ist, Asylbewerberunterkünfte anzuzünden oder Menschen nach Leib und Leben zu trachten. Andererseits fällt auf, dass die Autorin des verlinkten Plädoyers Verhaltensmängel ausnahmslos in demjenigen Bevölkerungssegment ausmacht, das sich mit der Diffamierungsgeneralklausel "rechts" wohl ziemlich treffend umschreiben lässt.

Es scheint tatsächlich so, dass - was den Anspruch auf eine anständige Behandlung angeht - alle Menschen gleich, doch manche gleicher als andere sind. Die demokratieabgabefinanzierte Exkommunikationsveranstaltung, in der Reinhold Beckmann samt Sekundanten den Stab über Thilo Sarrazin brach; das mediale Unisono gegen den früheren Bundespräsidenten Horst Köhler; die journalistischen Kampagnen rund um die Causa Brüderle-Himmelreich; ein achtsamer, respektvoller Umgang miteinander sieht anders aus, und so kann der Verfasser dieser Zeilen nicht umhin, die Anstandsappelle, die ja gerade aus den angesprochenen Publizistenkreisen hervordringen, als einen Akt jener Verlogenheit und Heuchelei zu betrachten, welche die veröffentlichte Meinung ohne jede Gesichtsröte zu äußern imstande ist.

Dies heißt nun allerdings nicht, dass die vorgetragenen Mahnungen aus der Luft gegriffen wären, wie die verlinkten Exempel hinlänglich belegen. Derjenige, der "Feurio!" schreit, obwohl er den Brand selbst gelegt hat, macht ja trotzdem auf eine Gefahr aufmerksam, wenngleich man ihm vielleicht nicht die Löschung der Flammen anvertrauen würde. Freilich keimt der Verdacht auf, dass der um den Anstand gemachte Aufstand nur dazu dienen soll, letztlich wieder Meinungen und Positionen von der politischen Bühne zu verbannen: Nach Hatespeech und Fakenews ist dann vielleicht die indecent expression die nächste Sau, die durchs bundesjustizministerielle Dorf getrieben wird. (Die Bezeichnung des Missstandsphänomens muss natürlich englisch sein, um ein globales Problem zu signalisieren.)

Aber wie gesagt: Die Tonalität, die in der medialen Öffentlichkeit angeschlagen wird, lässt zu wünschen übrig. Abhilfe dagegen verspricht sich der Verfasser dieser Zeilen jedoch nicht von einem uferlos weiten Konzept wie dem Anstand (der es ja zum Beispiel auch gebeut, nicht nackt durch die Stadt zu rennen oder beim Niesen die Hand vor den Mund zu halten), sondern von dem guten, alten Institut der Fairness.

Was unter diesem Begriff zu verstehen ist, sagt uns im Hinblick auf den publizistischen Diskurs weniger der Sport als vielmehr der (analog anzuwendende) Kanon von Verfahrensgrundsätzen, wie er in mehreren Jahrtausenden für Gerichtsprozesse entwickelt worden ist.

Da wäre zum einen und zuvörderst das Recht auf Gehör, das zweckmäßigerweise nicht in den Wortabschneidungszeremonien der Talkshows, sondern zum Beispiel durch Gastbeiträge in graphischen Medien ausgeübt werden sollte. (Man stelle sich vor, Sarrazin wäre nicht dem Beckmann'schen Scherbengericht vorgeführt worden, sondern er hätte zum Beispiel in der FAZ eine Seite bekommen. Dies wäre diskursiv sinnvoll gewesen.)

Zum anderen müsste die sogenannte Waffengleichheit gewährleistet sein, was ein Postulat des Strafverfahrens ist. Dies würde bedeuten, dass man auf den - überdies unvertretenen - Angeklagten (dieses Wort passt einfach) nicht sieben oder acht belastungseifreige Staatsanwälte ansetzt, sondern auf ein Äquilibrium der Kräfte achtet. Wie dies in televisiven oder radiophonischen Diskussionssendungen umgesetzt werden könnte, ist offensichtlich. Ein Schriftmedium könnte dies zum Beispiel in einem Pro-und-Contra-Abtausch bewerkstelligen, nach Art etwa des entsprechenden Features des Cicero (der diesbezüglich lobend erwähnt werden soll).

Wichtig wäre freilich auch eine Eingriffsmöglichkeit gegen Aktenwidrigkeiten, das heißt gegen Falschzitate oder Falschreferate von Äußerungen Beteiligter. Dass Derartiges in der Medienlandschaft nicht nur als statistisch unbeachtlicher Einzelfall vorkommt, dürfte klar sein. Der Verfasser dieser Zeilen hat zuletzt hinsichtlich einer Spiegel-Online-Kolumne eine solche unrichtige Wiedergabe gerügt. Und in einem anderen Fall war die veröffentlichte Empörung im Wesentlichen von einer Aktenwidrigkeit getragen. (In diesem Zusammenhang sei auf einen Beitrag eines dezidiert linken Journalisten verwiesen, dem man das vom Verfasser dieser Zeilen kritisierte Foulspiel jedenfalls nicht ankreiden kann.)

Natürlich ist diese Liste nicht abschließend. Doch wenn die soeben genannten Punkte Berücksichtigung fänden, wäre an der Art, wie der öffentliche Diskurs geführt wird, deutlich weniger zu beanstanden.
Noricus

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