29. Mai 2017

徐志摩 - 再别康橋 - Xu Zhimo, "Erneuter Abschied von Cambridge" (1928)



In Cambridge, direkt hinter der Brücke, über die der Weg vom King's College über die Cam führt, die den Campus der Universität teilt, findet sich seit dem Juli 2008 ein Gedenkstein, auf dem die letzten vier Zeilen eines Gedichts in hanzi, also in chinesischen Schriftzeichen, eingraviert sind. Es handelt sich um eines der bekanntesten Gedichte der modernen chinesischen Lyrik, und um eins der beiden bekanntesten seines Verfassers, Xu Zhimo (1897-1931). Das Gedicht ist seit vielen Jahrzehnten verpflichtende Schullektüre auf chinesischen weiterführenden Schulen in jenem Abschnitt, der bei uns der gymnasialen Mittelstufe entspricht, und man kann ruhigen Gewissens sagen, daß jeder dieser Schüler ein oder zwei Zeilen darauf im Gedächtnis bewahrt. Vollständig lautet das in reimenden Vierzeilern gehaltene Gedicht so:

再别康橋

輕輕的我走了,
正如我輕輕的來;
我輕輕的招手,
作別西天的雲彩。

那河畔的金柳,
是夕陽中的新娘;
波光裡的艷影,
在我的心頭蕩漾。

軟泥上的青荇,
油油地在水底招搖;
在康河的柔波裡,
我甘心做一條水草!

那榆蔭下的一潭,
不是清泉,是天上虹;
揉碎在浮藻間,
沉澱著彩虹似的夢。

尋夢?撐一支長篙,
向青草更青處漫溯;
滿載一船星輝,
在星輝斑斕裡放歌。

但我不能放歌,
悄悄是別離的笙簫;
夏蟲也為我沉默,
沉默是今晚的康橋!

悄悄的我走了,
正如我悄悄的來;
我揮一揮衣袖,
不帶走一片雲彩。

Da den meisten Lesern diese Zeichen nichts sagen werden (außer einer skurrilen Strichfolge), sei, um den Reimbau und die strenge Metrik deutlich zu machen, die Transliteration in Hanyu Pinyin hergesetzt, der heute gebräuchlichen Transliterationsweise, die seit den fünfziger Jahren die bis dahin gebräuchliche Giles-Wade-Umschrift ersetzt hat.

Zài bié kāngqiáo

qīng qīng de wǒ zǒule,
zhèngrú wǒ qīng qīng de lái;
wǒ qīng qīng de zhāoshǒu,
zuò bié xītiān de yúncai.

Nà hépàn de jīn liǔ,
shì xīyáng zhōng de xīnniáng;
bōguāng lǐ de yàn yǐng,
zài wǒ de xīntóu dàngyàng.

Ruǎnní shàng de qīng xìng,
yóu yóu dì zài shuǐdǐ zhāoyáo;
zài kāng hé de róu bō lǐ,
wǒ gānxīn zuò yītiáo shuǐcǎo!

Nà yú yīn xià de yī tán,
bùshì qīngquán, shì tiānshàng hóng;
róu suì zài fúzǎo jiān,
chéndiànzhe cǎihóng shì de mèng.

Xún mèng? Chēng yī zhī zhǎng gāo,
xiàng qīngcǎo gèng qīng chù màn sù;
mǎn zǎi yī chuán xīng huī,
zài xīng huī bānlán lǐ fànggē.

Dàn wǒ bùnéng fànggē,
qiāoqiāo shì biélí de shēng xiāo;
xià chóng yě wèi wǒ chénmò,
chénmò shì jīn wǎn de kāngqiáo!

Qiāoqiāo de wǒ zǒule,
zhèngrú wǒ qiāoqiāo de lái;
wǒ huī yīhuī yī xiù,
bù dài zǒu yīpiàn yúncai.

Hier eine gesprochene Fassung zum Mithören:



Erneuter Abschied von Cambridge

Still kam ich an, und gehe jetzt
genauso still von hier.
Ich winke nur den Wolken zu
am Himmel über mir.

Die goldene Weide am Ufer
zerfließt im letzten Licht.
Ihr zitterndes Bild auf den Wellen
ist, was mein Herz anspricht.

Das Schilf steht dort, auf weichem Schlick,
vom Wasser sanft gewiegt;
Ich wollte, ich wär' eins davon,
das leicht der Cam-Fluß biegt.

Das Wasser dort im schattigen Teich:
Bunt wie ein Regenbogen.
Die Algen haben tief in sich
Traumfarben eingesogen.

Mein Traum? -  Den Kahn den Fluß hinauf
staken, zu smaragdgrünen Wiesen
zum Bord gefüllt mit Sternenlicht
und in Gesang zerfließen.

Ich sitze hier und singe nicht.
Die Stille ist mein Lied.
Sogar die Grillen werden still
in Cambridge heute nacht.

Leis' kam ich her und gehe fort
mit leisem, sachtem Schritt.
Ich winke nur sacht mit der Hand
und nehme keine Wolke mit.

(6. November 1928, geschrieben nach seiner Rückkehr nach China; zuerst erschienen am 10. Dezember 1928 in der literarischen Zeitschrift 新月, xin yuè/Neumond.)

(Übersetzung: U.E.)



Xu Zhimo, der von Haus aus Xu Yousen hieß, wurde am 15. Januar 1897 in Haining in der Provinz Zhejiang geboren und studierte seit 1915, zuerst in Peiyang, danach in Peking Jurisprudenz. Seit 1918 setzte er seine Studien zunächst in den USA (wo er 1919 mit dem Bachelor-Grad an der Clark University in Worcester, Massachusetts abschloß), um daran anschließend an der Columbia University in New York und dann, weil er die Atmosphäre in Amerika als "unerträglich" empfand, am King's College Politik und Wirtschaftswissenschaften zu studieren. In England verliebte er sich in die Dichtung des 19. Jahrhunderts und kam vom gesicherten Pfad der Respektabilität ins Luftreich der Poesie. In vieler Hinsicht gleich sein fatum hier dem seines japanischen Kollegen Natsume Soseki, dessen Todestag sich im vergangenen Dezember zum 100. Mal jährte und dessen Londoner Studienaufenthalt fast zwanzig Jahre zuvor dem Wirtschaftsberatungskosmos einen lizensierten Experten kostete und der literarischen Moderne ihres Landes einen Klassiker bescherte.  

Nach seiner Rückkehr nach China schloß er sich der Pekinger Dichtergruppe "Neuer Mond" an, in deren Zeitschrift auch die obigen Verse zuerst erschienen sind. (Das war, nachdem sich der Kreis im Jahr davor in Peking aufgelöst hatte und in Shanghai, das vor den Unruhen des Bürgerkrieges sicher war und aus dem die Armee Tschiang Kai-cheks im April zuvor die Kommunistischen Revolutionäre unter Mao Zedong und Tschou En-lai vertrieben hatte). Xu war, anders als seine Kollegen aus der vorigen Literatengeneration, mit mehr von dem geprägt, was man mit-dem-Rücken-zum-Westen-Stehen nennen könnte, also noch den bisherigen chinesischen Traditionen geprägt und sie gegenüber Innovationen verteidigend, sondern sich frei aus ihrem Fundus bedienend. (Unter anderem adaptierte er die Form des Limericks; sein neben unseren Versen hier bekanntestes Gedicht 偶然 / Ǒurán / "Zufällig" ist von der Form her ein doppelter Limerick.). Neben dem eigenen Werk, bis zu seinem frühen Tod in vier schmalen Bänden erschienen, zählen dazu auch drei Bände mit Gedichtübersetzungen aus dem Englischen, etwa von William Blake (dessen "Tyger! Tyger! burning bright" dem dritten Band den Titel verlieh.) Auch die Unstetheit, die rastlose Umtriebigkeit - kurzfristige Anstellungen an verschiedenen Universitäten, schriftstellerische Tätigkeit für eine Reihe modernistischer Zeitschriften: all das verbindet ihn eher mit seinen westlichen Zeitgenossen der zwanziger Jahre wie etwa D. H. Lawrence oder Robert Graves als mit der Bahn chinesischer Literaten. (Die Parallele zu Lawrence geht weiter: beide wählten ihre Unstetigkeit nicht als Signum bohemehafter Lebensgestaltung, sondern aus schierer ökonomischer Notwendigkeit. Xu war seit 1915 mit der 1900 geborenen Zhang Youyi (1900-1988) verheiratet, in einer von den Eltern nach traditionellem Muster arrangierten Ehe, die 1921 in die Brüche ging, nachdem sich Xu in England in seine Kommilitonin Lu Xiaoman (1903-1965) verliebt hatte. Kleine Fußnote: Zhang Youyi war, auf ihre Weise, und auch hier zeigen sich Parallelen zu den gleichzeitigen Verhältnissen im Westen, eine erstaunlich und erfolgreiche Persönlichkeit. nach ihrer Scheidung studierte sie in Berlin Pädagogik und gründete nach ihrer Rückkehr nach Shanghai mehrere Kindergärten, in denen zum ersten Mal die Prinzipien Heinrich Pestalozzis Anwendung fanden. Ihre Laufbahn beendete sie als Bankdirektorin der Shanghai Women's Savings Bank; ihr Bruder Chang Kia-ngau (1889-1979), der ihr das ermöglichte, war Direktor der Bank of China). Die Ehe zwischen Xu und Lu, 1925 nach beider Scheidung geschlossen, war seinerzeit sogar unter aufgeschlossenen Landsleuten ein leichtes Skandalon, und der fehlende Rückhalt durch beide Familien bei beständigen Geldsorgen tat ein Übriges. Zwei weitere Kurzaufenthalte in Europa folgten: Vom März bis Mai 1925 und vom Juni bis Oktober 1928, mit jenem Besuch in Cambridge, der Anlaß zu seinem Gedicht war. (Im 再 / zái / "erneut" kann man auch ein Echo auf ein erstes Abschiedgedicht von Cambridge lesen, das Xu 1922 verfaßt hat, und das erst Aufnahme in seine posthumen gesammelten Werke fand.)

Xus Gedichte stießen wegen ihrer Konzentration auf die private Verfaßtheit, aufs Impressionistisch-Flüchtige auch bei den zeitgenössischen Kritikern auf Vorbehalte, gerade in einer Zeit, in der Literatur im Kielwasser des "Mai 1919" als Mittel sozialer Kritik, zur Weckung "revolutionärer Energien" dienen sollte. Mao Dun, über Jahrzehnte so etwas wie die Eminence grisé maoistischer Literaturkritik, sah in ihnen nur "bunte Seifenblasen, glänzend durch ihre Kunstfertigkeit, aber von gleicher Wertlosigkeit".

Xu starb übrigens im November 1931 bei einem Flugzeugabsturz im Alter von nur 34 Jahren: auch darin mag man ein Symbol für sein Leben zwischen unbehauster Moderne und Tradition sehen. Xu hatte sich in Li Huying (1904-1955) verliebt, die als eine der ersten Frauen in China Architektur studierte, und wollte ihren ersten öffentlichen Vortrag in Peking nicht versäumen. Auf dem Flug von Nanjing zum Flugfeld von Nanyuang bei Peking zerschellte die sechssitzige Postmaschine, ein Stinson-Hochdecker, im Nebel in der gebirgigen Gegend von Jinan in der Provinz Shandong. Mit in diese symbolische Gemengelage mag man rechnen, daß es sich bei dem Flugzeug um die Privatmaschine des Warlords Zhang Xueliang (1901-2001) gehandelt hatte, der als einer der unsichersten Kantonisten der nationalchinesischen Allianz Tschiang Kai-cheks galt, und der nach einer versuchten und fehlgeschlagenen Entführung Tschiangs, um ihn zu einer Allianz mit den Kommunisten zu zwingen, die letzten fünfzig Jahre seines Lebens unter Hausarrest in Taiwan zubrachte.

 ***
Kurze philologische Fußnoten:

Wie in der vorletzten Strophe zu sehen, reimt sich hier "shēng xiāo" (Flöten am Abend, auch im Sinn von "abendlicher Flötenklang") auf "kāngqiáo", einer seit Ende des 19. Jahrhunderts üblichen Sinisierung für Cambridge. Ein solcher Reim läßt sich im Deutschen schlechterdings nicht reproduzieren. Das "qiáo" bedeutet "Brücke",  "kāng" gibt die englische Silbe "Cam" wieder. Die heutig übliche Bezeichnung lautet 劍橋, Jiànqiáo, wobei das erste Hanzi das Zeichen für "Schwert" darstellt. Dieser Unterschied zwischen dem Ortsnamen und der Flußbezeichnung führt bei chinesischen Studenten und Touristen häufig zu der Frage, welche Brücke im Titel des Gedichts denn nun genau gemeint sei. In der vierten Stophe reimt sich hóng übrigens rein auf mèng: nach dem Regeln des Pinyin mutiert die Aussprache des "eng" nach einem Konsonanten zu "ong". Zur Aussprache des Namens: Ein recht stimmhaftes "s" ("x" wird in der alten Giles-Wade-Umschreibung noch mit "hs" transliteriert; das h ist kaum hörbar) und ein sehr kurzes "ü" für das "u" mit steigendem 4. Ton kommen dem Original recht nahe; das "zh" im Vornamen ist sehr weich (aspiriert) auszusprechen.

Letzte Strophe: in Original winkt der Poet (oder, woran man deutsche Studenten der Anglistik unfehlbar ausmachen kann: "the lyrical I") kurz mit dem Ärmel; das schien mir unidiomatisch. Es gibt, zumal beim Übersetzen von Lyrik, zwei mögliche Zielrichtungen: entweder eine weitgehende Entsprechung des Original, oder aber ein natürlicher, ungezwungen wirkender Sprachduktus, der nicht in Syntax oder Semantik Unbeholfenheiten und eine sprachliche Exotik erzeugt, die im Original schlicht nicht vorhanden ist. Für die zweiten Strophe bekenne ich mich einer Emendation schuldig, da im Original die Weide (oder auch die Weiden: auch das entspräche dem Chinesischen, das den Numerus nicht durch Flektion anzeigt, sondern, falls es sich nicht aus dem Kontext ergibt, durch eine Vielzahl von Zahlklassenwörtern, die für den Lernenden den Stolperstein bilden, den in anderen Sprachen die unregelmäßigen Verben ausmachen - oder im Fall des Deutschen, 德文, die flektierten Artikel - oder das ansonsten unbestimmt läßt) die "Braut der untergehenden Sonne" ist. Dieses Eins-Werden, Miteinander-Verschmelzen hat nun das ungleich plattere zerfließen zu tragen.

Der für deutsche Leser unabwendbare Anklang an die Schubert'sche bzw. Maler Müller'sche Winterreise ("fremd bin ich eingezogen / fremd zieh ich wieder aus") ist reiner topischer Zufall; die sprachliche Parallelisierung ist übrigens Kennzeichen vieler chinesischer Redewendungen, wie in 天外有天, 人外有人, Die Assonanz an Lewis Carrolls "All on a Golden Afternoon", dem Widmungsgedicht in Alice in Wonderland, dürfte hingegen als beabsichtigt zu verbuchen sein.


(Abb. Wikipedia.zh)

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Ulrich Elkmann

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