9. August 2017

Im Namen des Volkes? - Gedanken eines Nichtjuristen

Was haben Juristen und Bären gemeinsam? Dass ihnen beiden die Literatur - in Person von Harry Rowohlt bzw. Ludwig Thoma einen mäßigen Verstand zuschreibt. Nun bin ich kein Jurist und auch nur qua nom de plume ein Bär, versuche aber trotzdem hier einigermaßen verständlich meine Gedanken zu einer interessanten Diskussion aus dem kleinen Zimmer darzulegen.

An Hand eines - von den meisten Diskussionspartnern als skandalös empfundenen - Urteils wurde die Frage aufgeworfen, in wie weit die Justiz zu einer "Geheimwissenschaft" geworden ist, die sich anmaßt, "im Namen des Volkes" Recht zu sprechen und in Wirklichkeit dessen Gerechtigkeitsempfinden systematisch verletzt.

Ich stelle die beiden konträren Positionen an Hand von exemplarischen Zitaten dar, ersuche aber den Leser, sich zum Verständnis die komplette Diskussion anzusehen.

Der geschätzte Autorenkollege Noricus schreibt:
In diesem Forum wird verbreitet (und zu Recht) die Meinung vertreten, dass die Ergebnisse von Diskussionen, die Theaterwissenschaftler über Abgasnormen führen, irrelevant sind bzw. sein sollten. Anders sieht man das offenbar, wenn Nichtjuristen anhand eines von einem Nichtjuristen geschriebenen Zeitungsartikels (wie war das mit der Glaubwürdigkeit der Presse? Gab es da nicht mal das L-Wort?) bei sonstiger Unkenntnis des Verfahrens ihre Ansichten über die Rechtsrichtigkeit eines Urteils äußern.

Der ebenso geschätzte Forist dirk schreibt:
Wenn Gesetze allgemeinverbindlich sind und Recht im Namen des Volkes gesprochen werden soll (gut, das wurde es hier offenkundig nicht), dann kann eine Diskussion ueber Recht und Rechtsprechung nicht einer lizensierten Minderheit vorbehalten sein. Die Juristerei ist keine "Science". Im Gegenteil: Je mehr Fachkenntnis erforderlich ist um Rechtssprechung nachzuvollziehen, umso schlechter der Zustand der Juristerei.(...) In einer idealen Welt wendet der Jurist Recht an, hat also quasi die Bedeutung eines Sachbearbeiters. In der realen Welt schaffen sich Juristen Interpretationshoheit und berufen sich zum Priester. Im Unterschied zu anderen Bereichen, zu Wissenschaften, ist der von ihnen behandelte Gegenstand nicht kompliziert. Er wird kompliziert gemacht, entgegen dem wie es idealerweise sein sollte.

Ist also die Justiz, wie der Vorwurf lautet, a) undemokratisch und b) elitär?


Ich erlaube mir dazu eine philosophische Vorbemerkung: Der Wunsch nach Gerechtigkeit gehört zur condition humaine, genau wie der Wunsch nach einem Konsens in einer Gesellschaft - zusammengefasst, wie Dirk formuliert: Der Wunsch nach der idealen Welt. Deshalb werden Erwartungen an die Justiz gestellt, die Lücke zwischen realer und idealer Welt zu heilen, und zwar in einer Weise, die jedem als "vernünftig" angesehenen Menschen unmittelbar einleuchtet.

In einer säkularen, pluralistischen Gesellschaft, in der es keine transzendente moralische Instanz als Letztbegründung für Regeln und Sanktionen gibt, bedürfen diese einer gesonderten Legitimation. Neben der Legitimation durch Übereinstimmung mit der geltenden Verfassung bzw. den Rechtsstaatsprinzipien wird im Zuge der allgemeinen Elitenskepsis immer häufiger der oben von Dirk ausformulierte Vorwurf laut, dass die Strafrechtspraxis dem natürlichen (der Begriff "gesund" ist ja verbrannt) Gerechtigkeitsverständnis der meisten Menschen widerspricht. Und zwar systematisch.

Wie verhält es sich also mit der Abgehobenheit der Juristen und Unverständlichkeit des Rechts? 

Es ist klar, dass mit steigender Ausdifferenzierung der Gesellschaft auch das Recht und seine Anwendung immer komplexer wird. Dass die Gesellschaft, die in immer mehr Bereichen nach Rechtssicherheit und damit mehr gesetzlicher Regelung verlangt, daran einen grundlegenden Anteil hat, wird dabei gerne übersehen. Genauso wie die banale Tatsache, dass die Ausdifferenzierung eine immer höhere Anzahl von Spezialfällen hervorbringt, was zwangsläufig auch die Anwendung des Rechts verkompliziert. Eine komplexe Realität trifft auf eine komplexe Gesetzeslage.

Auch wenn jeder von uns den nervigen Klischeejuristen kennt, der bei der ersten Äußerung eines Laien zu einer Rechtsfrage angewidert die Augen verdreht, finde ich, dass Noricus einen Punkt hat. Denn seine Kritik bezog sich lediglich auf die Kommentare zur "Rechtsrichtigkeit" und keineswegs auf irgendwelche transzendenten Vorstellungen wie "Gerechtigkeit", die man - wie nicht nur Juristen wissen sollten - vor Gericht nicht bekommt, sondern allenfalls ein Urteil. Und um die Rechtsrichtigkeit zu beurteilen, sollte man, ähnlich wie bei der Bewertung jedes anderen Sachgebiets auch - ein gewisses Verständnis für die Logik des jeweiligen Fachgebiets mitbringen. 

Aus meiner persönlichen Sicht möchte ich sagen: bei den Grundprinzipien der Juristerei ist es nicht irgendwelche (Pseudo-)Religion, was das allgemeine Unverständnis hervorruft, sondern gerade deren Mangel. Was im alltäglichen Leben durch Annahmen (vulgo: Glaube), Sympathien (vulgo: Liebe) und Erwartungen (vulgo: Hoffnung) bewertet und entschieden wird, hat vor Gericht (idealerweise) keinen Platz.* 

Aber trifft dann der Vorwurf nicht genau ins Schwarze? Können wir die Justiz nicht wieder "menschlicher" machen? Und wenn ja, wie?

Brauchen wir ein StGB auf dem Merzschen Bierdeckel, das sich auf den Grundsatz "Sauerei gehört bestraft" reduzieren lässt? Und Richter, die lieber mal im Zweifel gegen den Angeklagten entscheiden, wenn die Gesetzeslage oder die Beweise kein Urteil hergeben, das die nach Vergeltung dürstende Öffentlichkeit zufriedenstellt? 

Hier gibt es verschiedene Ausprägungen - die extremste stellt das Recht direkt unter einen postulierten Volkswillen und wurde verwirklicht in den beiden deutschen Diktaturen. Artikel 2 RStGB vom 28.06.1935 sagt: Bestraft wird, wer eine Tat begeht, die das Gesetz für strafbar erklärt oder die nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Bestrafung verdient. (Für ähnliche Prinzipien in der DDR vgl. Gysi, Gregor: Zur Vervollkommnung des sozialistischen Rechtes im Rechtsverwirklichungsprozess, Berlin, Humboldt-Univ., Diss. A, 1976). 

Nun wissen wir ja, dass Diktaturen den Volkswillen (volonté générale nach Rousseau) immer als Vorwand zur Macht- und Ideologiesicherung benutzen. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass dieses Vorgehen genau dem Missbrauch Tür und Tor öffnet, den die Rechtsstaatsprinzipien eigentlich verhindern sollen. Aber auch andere Vorschläge zur Popularisierung der Justiz haben ihre Fallstricke.

Oft wird auf "direktdemokratische" Elemente in der angelsächsischen Justiz verwiesen, wie z. B. die Direktwahl von Richtern und Staatsanwälten oder Anklageerhebungen und Schuldsprüche durch  die sprichwörtlichen twelve good citizens. Diese Demokratisierung geht sehr weit, das aus dem Fifth amendment abgeleitete Recht der Jury nullification sorgt dafür, dass ein Urteil einer Jury selbst dann Bestand hat, wenn es dem Gesetz widerspricht. Man sage, was man will, demokratisch ist es.

Die Kehrseite ist, dass dank der ebenso verbreiteten Praxis des plea bargain zwei Drittel der Urteile (und 95% der Schuldsprüche) nicht von der Jury gesprochen werden, sondern zwischen Verteidigung und Anklage abgestimmt werden. Dabei ist übrigens nicht nur das Strafmaß, sondern auch der Straftatbestand und sogar der Tathergang (fact bargaining) Gegenstand der Abmachung. Die prosecution fordert zu Beginn eine Verurteilung wegen felony murder und die Todesstrafe, die Verteidigung Freispruch. Beides mehr oder weniger um des Showeffekts willen. Hinter den Kulissen bietet der Staatsanwalt second degree murder und 20 years to life an, und zum Schluss bekennt sich der Angeklagte schuldig auf voluntary manslaughter und fährt 10 Jahre ein. Im fact bargain folgt, dass die Verteidigung die Tatsachen, die dem vereinbarten Straftatbestand entsprechen, zugibt, und die Staatsanwaltschaft (die keine Aufklärungspflicht kennt) eventuelle weitergehende Hinweise außer Acht lässt. Für unser Beispiel: Der Angeklagte gibt zu, dass er das Opfer im Streit erschossen hat, die Staatsanwaltschaft versucht aber nicht mehr zu beweisen, dass er die Tatwaffe schon am Vortag im Haus des Toten deponiert hat.

Ich bin mir relativ sicher, dass dieses Vorgehen in einem Land wie Deutschland, das so sehr an a) kodifizierten Regeln und b) an der "objektiven Wahrheit" (im Sinne empirisch überprüfbarer Fakten) hängt, nicht zum Rechtsfrieden beitragen würde. 

In der Diskussion hatte ich bereits vorweggenommen, dass ich ein ausdifferenziertes Strafrecht für einen ausgemachten Zivilisationsfortschritt halte, selbst wenn die konsequente Anwendung der Rechtsstaatsprinzipien auf den ersten Blick kontraintuitiv sein mag. Genauso wie die herrschenden und vom Bundesverfassungsgericht 1977 bestätigten Strafzwecke "Schuldausgleich, Prävention, Resozialisierung des Täters, Sühne und Vergeltung für begangenes Unrecht". Das aus meiner Sicht fortschrittliche und einem freiheitlichen Rechtsstaat einzig angemessene Element darin ist nämlich genau, dass diese Prinzipien keineswegs an die moralischen Erwartungen der Öffentlichkeit geknüpft sind - diesen zu entsprechen ist einzig Sache des Gesetzgebers, der den gesetzlichen Rahmen festlegt. 

Oder wie es Stephen Bright, ein Rechtsprofessor aus Yale, prägnant auf den Punkt bringt: It’s the difference between the rule of law and the rule of the mob.


* Hier muss ich allerdings einräumen, dass durch die steigende Bedeutung von psychologischen Gutachten ein durchaus beachtliches Maß an Esoterik Einzug in die Rechtspflege hält.


­
Meister Petz

© Meister Petz. Titelvignette: R. John Wright Winnie-the-Pooh Bear, picture taken at RJW studio in Vermont. Vom User Wizard80210 unter CC BY-SA 3.0 lizenziert.  Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an dirk und Noricus.