5. Januar 2018

Jahreszeitenklang, Coda: 恭喜, Gōngxǐ

Im Chinesischen gibt es kein Lied, das sich speziell dem Jahreswechsel widmet oder, durch die Aufführung zu diesem Zeitpunkt, damit eine Verkoppelung erfahren hat - so wie im deutschen Kulturraum etwa der einundneunzigste Geburtstag einer gewissen alterslosen Dame, die quelle ironie, wahrscheinlich noch nicht einmal ein Wort Deutsch sprach (aber dergleichen synkretistische Transfers sind im Bereich der Aufwertung zum eigenem Traditionsgut gang und gäbe: der Weihnachtsmann in seinem roten Aufzug ist ein schwer kulturimperialistischer USA-Import aus der Zeit, als den Vereinigten Staaten nicht ferner lag als kulturindustrielle Hegemonie, nämlich dem späten 19. Jahrhundert; der auf häufigsten auf chinesischen Bühnen aufgeführte Theaterklassiker der letzten vierzig Jahre ist ein alter Chinese namens William Shakespeare und der am häufigsten gespielte Vertreter der klassischen Musik, soweit sie für Orchester komponiert ist, ein alter Chinese namens Ludwig van Beethoven). Mit einer Ausnahme: dem Lied 恭喜, "Herzlichen Glückwunsch", zusammengesetzt aus den Zeichen für "Respekt" und "sich freuen". Das Lied gilt heute, auch im chinesischen Raum, als ein altes traditionelles Kinderlied; daß es ursprünglich aus einem anderen, höchst konkreten Anlaß geschrieben und aufgenommen worden ist, spielt keine gewichtige Rolle. Komponiert wurde es im Spätsommer 1945 in Shanghai aus Anlaß des Endes des Zweiten Weltkriegs; speziell der Kapitulation des japanischen Kaiserreichs und des Endes der japanischen Besatzung Shanghais; das Duett, von Chen Gexin gedichtet und komponiert und von Yao Min und seiner (als Sängerin bekannteren Schwester) Yao Li aufgenommen, erschien im September 1945 bei Pathé als 78er-Schallplatte mit der Nummer 35648. Auch das Arrangement der Gitarrenbegleitung ist typisch chinesisch: als Vorbild diente hörbar die Kunst des alten chinesischen Meisters Django Reinhardt. Zur Koppelung hat sicher beigetragen, daß das Neue Jahr im traditionellen chinesischen Festkalender nicht an die Wintersonnenwende geknüpft ist, sondern über den Mondkalender (damit unserem Osterfest vergleichbar) dem tatsächlichen Frühjahrsbeginn näher liegt. Das Jahr des Hundes beginnt erst am 16. Februar. (Lassen wir einmal das Detail beiseite, daß jedes dieser traditionellen Jahre auch einem der fünf traditionellen Elemente - Wasser, Metall, Feuer, Erde und Holz - zugeordnet ist. Das kommende Jahr des Hundes steht im Zeichen des Elements Erde.)



每条大街小巷 每个人的嘴里
见面第一句话 就是恭喜恭喜
恭喜恭喜恭喜你呀 恭喜恭喜恭喜你
冬天已到尽头 真是好的消息
温暖的春风 就要吹醒大地
恭喜恭喜恭喜你呀 恭喜恭喜恭喜你
皓皓冰雪融解 眼看梅花吐蕊
漫漫长夜过去 听到一声鸡啼
恭喜恭喜恭喜你呀 恭喜恭喜恭喜你
经过多少困难 历尽多少磨练
多少心儿盼望 盼望春的消息
恭喜恭喜恭喜你呀 恭喜恭喜恭喜你
每条大街小巷 每个人的嘴里
见面第一句话 就是恭喜恭喜
恭喜恭喜恭喜你呀 恭喜恭喜恭喜你

Auf jeder Straße, auf jeder Gasse ist das erste, was man von jedermann hört: Glückwunsch! Glückwunsch! Der Winter ist vorbei, das ist wirklich eine gute Nachricht! Der warme Frühlingswind weckt die Erde. Glückwunsch! Der weiße Schnee schmilzt, und die Pflaumbäume blühen. Die endlose Nacht ist vorüber; ich höre einen Hahn krähen. Glückwunsch! Nach so viel Hoffnungslosigkeit, so viel Mühe - wieviel Hoffnung tragen wir im Herzen? Ich warte auf die frohe Botschaft des Frühlings. Glückwunsch! Auf jeder Straße und in der jeder Gasse ist der erste Satz, den man hört: Glückwunsch! Glück Ihnen allen!

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Auch andere Kulturkreise, gerade auch näher benachbarte, haben eigentlich keine bestimmten "Silvesterlieder" - auch hier mit einer Ausnahme. Im Englischen hat "Auld Lang Syne" diese Funktion übernommen: aus dem Schottischen herkommend und auf den Zeilen des nach seinem Tod (und ganz sicher gegen seinen Willen) zum Nationaldichter avancierten Robert Burns beruhend, ist die Beschwörung "alter Zeiten" und des Gedenkens an alte Freunde ebenfalls von passender Janusgesichtigkeit (Janus, mit doppeltem Gesicht nach hinten zurück und ins Kommende vorausblickend, ist oft als Emblem dieses Wechsels gewählt worden): für Leute, die sich als Schotten empfinden - speziell: die sich als Schotten im Exil empfinden (in dem solche Sentimentalität leichter fällt als in der Alten Heimat, die einen mit der Dauerpräsenz ihrer weniger erbaulichen Facetten eher zu erden pflegt - auch dies eine universelle Konstante) als Beschwörung einer wie immer gearteten "Scottishness", einer kulturellen Besonderheit; für den Rest des englischsprachigen Welt als ebenso traditioneller Jahresausklang.

Should auld acquaintance be forgot,
and never brought to mind?
Should auld acquaintance be forgot,
and auld lang syne?

For auld lang syne, my jo,
for auld lang syne,
we'll tak' a cup o' kindness yet,
for auld lang syne.

And surely ye'll be your pint-stoup!
and surely I'll be mine!
And we'll tak' a cup o’ kindness yet,
for auld lang syne.

Im Deutschen hat das Lied nicht besonders reüssiert (außer in indirekter Hinsicht, weil es durch die Verwendung in Filmen und Fernsehserien einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt hat; etwa in der Abschlußsequenz von Waterloo Bridge, 1940) - möglicherweise wegen der großen Ähnlichkeit mit dem alten - kann man sagen "Volkslied"? - und nun wirklich durch bathetische Männergesangstradition extra muros der musikalischen Satisfaktionsfähigkeit anzusiedelnden "Üb' immer Treu und Redlichkeit". Der Wiedererkennungseffekt greift mit so sehr in der leicht varierten Tonfolge des ersten Takts, sondern in der identischen des zweiten, in dem das Ohr bzw. das musikalische Gedächtnis sich versichert fühlt: "Da ist doch diese Melodie? Ja, das ist sie." Die Neigung des menschlichen Gehirns, Gehörtes wie Gesehenes einem erkannten Muster anzupassen (optische Täuschungen beruhen auf diesem Prinzip ebenso wie Mondegrens, also hartnäckige Verhörer: und aus den Wiesen steiget / der weiße Neger Wumbaba). (Es handelt sich nicht, man muß das heute ja betonen, um maliziösen Rassismus. Siehe hier). Ein weitere kleine Ironie liegt darin, daß die kleine Liedfassung von Schubarts Versen von 1776 ihre Unsterblichkeit wohl nur der Aufnahme in Mozarts "Zauberflöte" 15 Jahre später verdankt.

Im Japanischen etwa ist "Auld Lang Syne" ebenfalls zu einem alten japanischen Volkslied geworden, als 蛍の光, Hotaro no Hikari, dem "Leuchten des Glühwürmchens" seit Chikai Inagaki der Melodie einen neu gedichteten japanischen Text verpaßt hat. In japanischen Bars und Nachtklubs dient das Lied heute traditionell (es muß sich hier um die häufigste Vokabel in diesem Text handeln) als Ankündigung der Sperrstunde: Last orders!

蛍の光、窓の雪、
書読む月日、重ねつゝ。
何時しか年も、すぎの戸を、
開けてぞ今朝は、別れ行く。

Hotaru no hikari, mado no yuki,
Fumi yomu tsukihi, kasane tsutsu
Itsushika toshi mo, sugi no to wo,
Aketezo kesa wa, wakare yuku.

Das Leuchten der Glühwürmchen, der Schnee vor dem Fenster
wie viele Jahre und Monate habe ich das vorübergehen sehen?
Jahr um Jahr ist wie im Flug vergangen.
Jetzt bricht der Tag an; am Morgen gehen wir auseinander.



Vielleicht ist es ganz gut, daß dieses Lied nicht auf hiesige Verhältnisse adaptiert worden ist wie in diesem Fall. Der Text der beiden letzten Strophen lautet:

筑紫の極み、陸の奥、
海山遠く、隔つとも。
その眞心は、隔て無く、
一つに尽くせ、國の為。

千島の奥も、沖繩も、
八洲の内の、護りなり。
至らん國に、勲しく、
努めよ我が背、恙無く。

Die Fernen von Kyushu und Tohoku / sie trennen Meeres und Berge. / Aber nicht unsere heißen Herzen. / Wir dienen entschlossen unserem Land. // Von Chishima bis Okinawa - / all dies ist ein Teil Japans, unseres großen Landes, / dem wir gern unser Leben widmen.

Die Vorstellung, daß dergleichen, entsprechend konnotiert (und womöglich von als Kassiber in unverständlicher Zunge gehalten) von dunkelschlandig Besorgten als heimliche Hymne erkoren werden könnte, hat etwas leicht Beunruhigendes. Wir sollten es unserem politischen wie medialen Personal zutiefst danken, von ihnen in jeder Minute vorgeführt zu bekommen, daß ihnen nichts ferner sein könnte, als seinem Land entschlossen zu dienen.

Apropos "Last Orders": Julia Lee and Her Boyfriends (sollte sich jemand fragen, warum ihm dieser Song bislang unbekannt war: diese Version erschien als Single im Juni 1958 - wir bleiben im pazifischen Raum - in Neuseeland):



Zum Abschluß eine auf Mandarin gehaltene Fassung von "Auld Lang Syne", zum einen gesungen von Tsin Ting:


und zum zweiten von 李麗華, Li Lihua (1924-2017), deren Gesangskarriere von 1940 bis 1980 reichte, die aber als Schauspielerin in 39 Filmen der Shaw Brothers wesentlich mehr Ruhm erlangte und deren Fortgang von der irdischen Bühne am 19. März des vergangenen Jahres leider in diesem Diarium bisher unvermerkt blieb.




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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.