4. Februar 2018

Holla die Waldfee. Der neue Puritanismus, Zensur, #MeToo



("Hylas and the Nymphs," 1896. 98x162 cm, Öl auf Leinwand.  Abb.: Wikipedia)

In einem Seitenstück zur grassierenden "#Metoo"-Medienhysterie, bei dem man nicht nur den Eindruck hat, daß hier ein Komplex aus Unterhaltungsindustrie, die sie bedienenden Medien und ein wohlfeiler Empörungsmoralismus aus den seit langem intern bekannten und geduldeten Schattenseiten des eigenen Geschäftsmodells Gratiskapital schlägt, sondern auch ein Ablenkungsmanöver großen Stils stattfindet, das von den wirklichen Bedrohungen, denen Frauen und Mädchen in unseren westlichen Gesellschaften ausgesetzt sind ablenken soll - in einem kleinen Seitentrakt des Ministeriums für Kunstfreiheit (auf #Neudeutsch "Minikuf" genannt) ist in dieser Woche, so scheint es, Richtfest gefeiert worden - wie immer im Zeichen der Freiheit der Kunst. Die Manchester Art Gallery verbannte eine der Ikonen der englischen Malerei des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts ins Depot: das Gemälde "Hylas und die Nymphen" von John William Waterhouse (1849-1917) von 1896. Statt dessen werden die Besucher, die einen Blick auf diesen weltberühmte Gemälde werfen wollen, darauf verwiesen, daß die Abhängung selbst "eine Kunstauktion" sei, mit dem Ziel das Bild der Frau im 19. Jahrhundert zu hinterfragen, da die damaligen Künstler in fragwürdigen gesellschaftlichen Vorstellungen befangen gewesen seien. Auch Postkarten dieses Gemäldes wird man im Museumsshop vergeblich suchen.

Immerhin soll die Aktion auf den Zeitrahmen bis zum September 2018 beschränkt bleiben und die Reaktionen des Publikums selbst als Teil dieser künstlerisch wertvollen Betätigung in das Projekt einfließen. Mindestens zwei Dinge fallen dem Betrachter, der nicht Teil des eingangs erwähnten selbsterhaltenden Empörungsmafia ist, ins Auge: zum einen die doch noch empfundene Notwendigkeit, einen Akt der schlichten Zensur als Akt der Kunstausübung zu tarnen. Gerade in England ist ja, durch die jährlichen Preisverleihungen der Tate Modern, die schiere Dürftigkeit dessen, was seit Jahrzehnten als "moderne Kunst", als "Avantgarde" dem Publikum serviert wird, notorisch geworden. Es wird nicht mehr gestaltet, eine Idee illustriert, ein Ouevre geschaffen, alte Traditionen variiert oder dekonstruiert (und schon gar nicht im Rahmen ihrer Vorgaben geschaffen). Statt dessen müssen reine Gesten herhalten - am beliebtesten die, irgendetwas, egal was, mit dem Etikett "Kunst!" zu bekleben und ihm ein beliebiges Empörungspotential anzudichten - auch wenn das Publikum in diesem Belang seit Marcel Duchamps Readymade "Fountain" von vor mittlerweile einhundert Jahren durch nichts mehr aus der Ruhe zu bringen ist. Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat, Andy Warhols Waschpulverkartons, die nur durch die Signatur des Künstlers zum object d'art vereedelt wurden, der in Formaldehyd schwimmende Hai Damien Hirsts, Traci Emins zerwühltes Bett: all das sind Varianten eines auf einen rein negativen Impuls reduzierten Kunstbegriffs. Martin Creeds "Work No. 227: The Lights Going Off and On" (2001 von der Tate Modern prämiiert) steht exemplarisch dafür: eine Zeitschaltuhr schaltet in einem leeren Raum die Deckenbeleuchtung alle fünf Sekunden aus - und wieder ein. Wofür das steht? Was das ausdrücken soll? Nicht. Wer solches fragt, hat das Wesen solcher "Kunst" schlicht nicht verstanden. Daß es an ihr nichts mehr zu "verstehen" gibt: außer - vielleicht - dem Gestus "ich bin ein Künstler, was brauche ich da ein Werk?" Wenn nun freilich die Entfernung von Kunstwerken - wirklichen Kunstwerken, die unter den Maßgaben alter Kunstauffassung entstanden sind - selbst in den Rang von Kunstausübung erhoben wird, fragt man sich, was als nächstes an der Reihe sein wird. Bücherverbrennungen als Akt literarischer Kreativität?

Daß sich der Geschmack in der Kunst ändert, ist nun nichts neues. Jeder neue Stil, jede Innovation, die Ablösung einer Richtung durch die nächste machen das sogar zur Grundvoraussetzung aller Kunst, die sich als solche versteht, so von den Betrachtern empfunden wird. Das ist kein "europäisches", "weißes" Phänomen, sondern zeigt sich überall, wo sich die "Kunst" ein eigenes Territorium erobert hat und aus dem Schatten der religiösen Bildfindungen und Herrscherporträts herausgetreten ist: in der chinesischen Tuschmalerei und den japanischen Farbholzschnitten des Ukiyo-e, der "fließenden Welt" ebenso wie im mittelalterlichen Abendland mit ihrer Entdeckung der Welt und des menschlichen Körpers als zentrale Sujets. Daß die "Ölschinken" der europäischen Salonmalerei (die USA seien hier einmal gnädig dazugeschlagen) spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu Tausenden in den Depots verschwanden, um Platz zu machen für das Neue, Wilde, Abstrakte, ist so banal wie ihre Wiederkehr seit mittlerweile zwei Jahrzehnten, weil die Dürftigkeit des ehemals Hypermodernen in ihrer endlosen Reihung, die mittlerweile Museen moderner Kunst ähnlich uniform und ähnlich attraktiv macht wie die geklonten Filialen der ewiggleichen Geschäftsketten jede Innenstadt auf diesem Planeten (sofern das land zur Zivilisation gerechnet werden darf), genau dieselbe innere Leere im Betrachter hinterläßt wie die tausendste "Anbetung der Hirten" vor der neunhundertneunundneunzigsten "Madonna mit Kind" in den Pinakotheken alten Stils. (Man darf vermuten, daß sich das "Stendhal-Syndrom", 1817 in dessen Reisebericht aus Florenz und Rom beschrieben: der Überdruß, die Abstumpfung, das Gefühl einer inneren Leere, nicht der schieren Überpräsenz von "Kunst" verdankt, sondern der endlosen Repetition). "Hylas and the Nymphs" ist ein Paradebeispiel jener "Ölschinken-" oder "Salonmalerei"; und daß es sich um eins der Zentralwerke des englischen Präraffaelismus handelt, trägt dazu bei. Es liegt eine bezeichnende Ironie darin, daß die Pre-Raffaelites um Dante Gabriel Rossetti, Edward Burnes-Jones und William Morris, die in den 1850er Jahren angetreten waren, mit dem Muff und der Steifheit der Salonmalerei ihrer Zeit Schluß zu machen, deren gefühlte Untugenden und Plüschigkeit in ganz besonderem Maß zu verkörpern scheinen. (Vielleicht ist das ein Kennzeichen jeder "rebellischen Avantgarde", die nicht auf ein Heraustreten aus ihrer Zeit hinausläuft, sondern aufs Levitenlesen und moralische Reform: Bei den Schriftstellern der "Gruppe 47" läßt sich das Gleiche beobachten: Nichts dürfte die "Stickluft und gefühlte Kleingeistigkeit" der Adenauerzeit, der muff'jen Fuffzjer, die sie in einem fort anprangerten, so verkörpern wie die Werke von Walser, Grass und im höchstem Maß die des Heiligen Heinrichs, genannt Böll.)

Daß "Frauenbilder" (zumal einer weit über 100 Jahre zurückliegenden Zeit) "hinterfragt werden sollen"... man möchte mutmaßen, daß den Initiatoren solcher Zensur die Ironie ihrer Begründung nicht ansatzweise bewußt ist: denn genau dies: das "Infragestellen" der alten Rollenbilder, betreibt der Frauenbewegung, die Emanzipation, die Selbstvergewisserung des Zeitgeistes seit exakt jener Zeit, unablässig. Von den ersten Protagonistinnen der Emanzipation, von Anita Augspurg über Emma Goldman, von Reformerinnen wie Ellen Key (deren Werk "Das Jahrhundert des Kindes" von 1900 eins der geheimen Schlüsselwerke zur geistigen Landkarte des 20. Jahrhunderts darstellt), über die tatsächliche Emanzipation von Frauen in Kunst, Literatur und Wissenschaft, von Simone de Beauvoirs "Anderem Geschlecht" ein halbes Jahrhundert später bis hin zu des Spätausläufern des Typus Alice Schwarzer auf der einen Seite und der inhaltsfreien "Genderforschung auf der anderen.
Es ist aber noch eine Ironie in diesem unguten Spiel zu beobachten. Natürlich ist das Sujet des Bildes als Vorwand zur Darstellung des erotischen Reizes junger weiblicher Leiblichkeit gedacht, zur Präsentation des sex appeals - lang bevor die Wortprägung erfunden wurde (sie geht auf die Roaring Twenties zurück mit ihrer ersten "Sexwelle", mit ihrem Naturismus und der ersten Skandalwelle von öffentlichen Nackttänzen.) Aber die Folie dieser Darstellung ist der klassischen Mythologie entnommen - einem Fundus aus Erzählungen und Motiven, der den Künstlern wie dem Publikum selbstredend geläufig war. Und hier kommt ein Hallraum ins Spiel, der beim Lesen solcher Bilder unter die Oberfläche des Dargestellten führt. (Das Wort "Echo" bietet sich an - aber wer weiß heute noch, daß die Nymphe Echo, deren Geschichte die ätiologische Erklärung des physikalischen Phänomens liefert, just dem gleichen griechischen Mythenkreis entstammt?) Hylas war der Sohn des thrakischen Königs (oder Bauern - wie so oft spielen die griechischen Quellen, in denen diese Mythen referiert werden, diverse Varianten durch: in diesem Fall die rhodische und die dryopische Überlieferungsschiene) Theiodamas, den Herkules erschlug, nachdem er (Herkules, nicht Theiodamas) einen seiner Ochsen getötet hatte. Man bemerkt hier den Kern, das nicht weiter ausgeführte Motiv einer Konfliktlegung der tragischen Schuld des Heros, aus dem entscheidende Tragödien, Kriege, Rachefeldzüge entstehen können, wie beim Apfel des Parisurteils (das mit dem Untergang Trojas endete). Wichtig ist in diesem Bereich, daß Herakles nach vollbrachter Tat Hylas "als Lustknaben" mit sich nahm. Der, nun, Bund zwischen den beiden, als eine Steigerung des Meister-Schüler-Verhaltnisses (Herkules lehrt Hylas die Tugenden des Kämpfers, die Kampftechniken), bei der die explizit sexuelle Seite solcher Verhältnisse unerwähnt bleibt, wird in den antiken Quellen als das Modell jener besonderen Spielart der erlaubten und geförderten Homosexualität der griechischen Antike gefeiert. (Die alte griechische Kultur steht hier nicht allein: auch die Samurai-Kultur des Japans der Meiji-Zeit - deren Kodex sich freilich erst herausbildete, als die Samurai nach der Einigung des Landes unter Hideyoshi keinerlei Funktion mehr hatten - zeigt bis in die Details dieselben Phänomene, unabhängig voneinander entstanden.)  Eduard Mörike übersetzt das ihm gewidmete Kapitel in den "Idyllen" des griechischen Dichters Theophrast aus dem 3. Jahrhundert v.Chr. so:

Uns nicht als ersten erschien was schön ist wirklich als Schönes,
Die wir Sterbliche sind und nicht bis morgen vorausseh'n:
Auch des Amphitryon Sprößling, der erzdurchherzete, welcher
Muthig den Leuen bestanden, den grimmigen, liebte den Knaben
Hylas, den anmuthvollen, den Träger des Lockengeringels.
Alles auch lehret' er ihm wie der Vater dem theueren Sohne,
Wessen er selber belehrt gut ward und ein Lied für die Menschen.
Nie war fern er von ihm, nicht wann hoch ragte der Mittag,
Nicht wann Eos mit weißem Gespann Zeus' Himmel hinauffuhr,
Noch wann wieder in's Nest einblicken die piependen Küchlein,
Während die Fittige schüttelt auf ruß'gem Gestänge die Mutter,
Daß ihm recht nach dem Herzen der Knabe gefertiget werde,
Und in richtiger Furche zum Mann, zum wahren, gedeihe. 
("Hylas", Idyllen, in: Theokritos, Bion und Moschus, Kap. 13, Stuttgart: A. Werther, 1883)

Hylas wird das Opfer der Nymphe Dryope an der Quelle Pegai während der Argonautenfahrt (um das Goldene Vlies aus Kolchis zu rauben); nachdem er und Herakles zum Team Jasons gestoßen sind. Dryope entbrennt in Leidenschaft zu dem bildschönen Jüngling und zieht ihn unter Wasser (als Elementarwesen, diesem Element zugeordnet und ihm entstammend, deren Kennzeichen in diesen Legendenkomplexen die Abwesenheit der menschlichen, logisch schlußfolgernden Ratio ist, weiß sie nicht, daß er nicht wie sie unter Wasser atmen kann; in gleicher Weise verstehen die Baumnymphen, die Dryaden, warum die von ihnen als Liebhaber Gewählten altern und sterben); es handelt sich um das wohl älteste Beispiel jenes in aller Welt typischen Nixenverhaltens: "halb zog sie ihn, halb sank er hin / und ward nicht mehr gesehn." Herakles gerät außer sich, sucht ohne Ende nach dem verschwundenen Geliebten, und die Argonauten setzen ihre Fahrt ohne ihn fort. (Typisch für den inkrementalen Charakter der griechischen Mythengestaltung ist, daß auch dieses Motiv erweitert wird: in Apollonios Rhodos' Argonautica aus dem 2. Jahrhundert v.Chr. wird das Ersäufen zur "spurlosen Entrückung" und die Nymphe handelt im Auftrag Heras, deren Rachefeldzug gegen das Bankert ihres Göttergatten darin Ausdruck findet.)

(Auch in anderen Gestalten mythologischer Komplexe taucht die Funktion der sexuellen Bedrohung, aber auch der Verlockung auf: etwa bei den titelgebenden Waldfeen; in der Gestalt der Melusine, in den - weiblichen - Fuchsgeistern der chinesischen und japanischen Folklore, die dort die Rolle spielen, die in der westlichen Tradition die Schwanenmädchen einnehmen: wenn man sie auf ihr Geheimnis anspricht - oder sie ihr vor ihnen verborgenes Federkleid finden - verliert man sie für immer.)

Inwiefern diese Facette den Betrachtern vor 120 Jahren im Einzelnen präsent war, soll dahingestellt bleiben. Wenn man das Quellenmaterial kennt, ist sie unübersehbar. Und "griechische Liebe" findet sich als Bezugspunkt der Zeit immer wieder bei den Rechtfertigungsversuchen für männliche Homosexualität, ob nun etwa bei Oscar Wilde, André Gide oder dem deutschen Pionier Karl Heinrich Ulrichs. (Daß es sich hier, fast notorisch, um Bezugnahmen nicht auf die Beziehungen von erwachsenen Männern untereinander, sondern zu "Jünglingen", zu pubertierenden Teenagern, handelt, verleiht diesem Komplex aus der Kulturgeschichte westlicher Sexualität einen weiteren Aspekt. Man sollte genau das nicht aus dem Blick verlieren, bevor man sich, mittlerweile nachgerade automatisch,  über die damalige Ablehnung homosexueller Tendenzen echauffiert.) Die Quellnymphen, die Wasserfrauen, Meerwunder repräsentieren die weibliche Sexualität, ihre Verlockung - die als tödliche Gefahr erscheint. Allerdings nicht deswegen, weil sie weiblich ist, sondern weil sie natürlich - und nichts sonst - ist: ein ungezügelter, ungezähmter Naturtrieb, nicht den Strikturen und moralischen Begrenzungen unterworfen, die die menschliche Kultur hervorgebracht hat. Genau das macht die männliche Homosexualität (wie gesagt: in ihrer besonderen antiken, griechischen Ausprägung) akzeptabel: sie diszipliniert, sie dient einem ulterioren, pädagogischen Zweck. (Auch wenn uns, gerade auch nach den Erfahrungen im Umfeld mit den alternativen Schwulenbewegungen der frühen 1970er Jahre und den Skandalen um die Waldorfschulen beim Stichwort "pädagogisch" in diesem Konnex zumeist Schnappatmung befallen dürfte.)

Daß den Betreibern solcher Kunstzensur diese Dimensionen ihres doppelplusunguten Treibens präsent sind, darf man getrost ausschließen. Bei ihnen findet sich nur der Impetus gegen die unverstellte Feier der Sinnlichkeit. Dennoch sind sie vorhanden. Daß sie anderen Tendenzen in die Hand spielen, die sich gegen die teuflische Wollust, die sie der Hälfte der Menschheit als Hauptmerkmal zuschreibt, um die andere Hälfte vom Weg des Glaubens abzubringen (der moderne Kulturkritiker nennt dieses Verfahren "Essentialisierung") und sich damit nur mit einer Verteufelung zu helfen weiß, und die ihren handfesten Ausdruck in zunehmender optischer Segregation, von Kopftuch bis zur Burka, findet, würden sie sicher empört von sich weisen. Eine grimmige Ironie: ein Kunstbetrieb, der nichts mehr hervorbringt, ein Kulturbetrieb, der sich, nach Erschöpfung allen kreativen Potenzials, allein aus vermeintlich moralischem Gestikulieren gegenüber dem geschaffenen Fundus speist, arbeitet einem religiösen vormittelalterlichen Weltbild zu, dem dieser Fundus aus unzähligen Jahrhunderten von A bis Z Sünde und verwerflich ist und der die spastischen Gesten und Grimassen dieses #MeToo-Ismus nicht einmal zur Kenntnis nimmt. Hegel, der als Geschichtsphilosoph über einen grimmigen Sinn für die Aporien und Paradoxien des Weltgeschehens verfügte, hätte das mit bitterer Ironie verbucht.






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Ulrich Elkmann

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